Das verlorene Ideal

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Gehetzt sprang ich noch in die U-Bahn, bevor die Türen sich hinter mir schlossen und der Zug sich langsam in Bewegung setzte. Ich war schon wieder viel zu spät dran. Mit gewuschelten Haaren und außer Atem, drängelte ich mich zwischen den Leuten hindurch, zu einem Sitzplatz. Man versuchte mich so gut es ging zu ignorieren. Mir konnte es nur recht sein. Ich ließ mich neben einen älteren Herr nieder, der von mit genervt wegrutschte und sich gegen die Wand presste. Meine Güte, so schlimm war ich nun auch wieder nicht. Dieses Mal war ich dran, dieses Benehmen zu ignorieren. Ich klemmte meinen Rucksack zwischen meine Beine und schaute gegenüber in die Scheibe, um meine Haare wieder einigermaßen in Ordnung zu bringen. Ein Mann, der seitlich an der Haltestange lehnte, spähte über den Rand seiner Zeitung. Mal ehrlich, konnten die mich nicht einfach mal in Ruhe lassen? Ich schaute in geradewegs ins Gesicht und schnell hob er seine Zeitung. Feigling! Ich versuchte mich gerade auf die Nachrichten zu konzentrieren, die auf einen kleinen Monitor angezeigt wurden, als ein kleines Lachen ertönte. Es war leise und kurz, und vielleicht haben es viele nicht wahrgenommen, aber es war in diesem Moment an mich gerichtet. Das spürte ich. Ich schaute gegenüber zu einen jungen Mann, der eingequetscht neben zwei Frauen saß. Er hatte ein schelmisches lächeln auf seinen Lippen und seine Augen strahlten mich wie zwei Diamanten an. Ich beobachtete ihn. Er hatte dunkle fast schwarze Haare, die ihn wild von Kopf ab standen. Eine hellbraune Shorts und ein rotes T-Shirt mit irgendeinem Bandname vorne drauf, hatte er an. Und er trug viele dünne und lange Perlenketten um den Hals und hatte an beide Armgelenke Leder und Leinenarmbänder in verschiedenen Farben. Seine Haut war in einer Cappuccino ähnlicher Farbe. Er sah besonders aus. Ich bemerkte erst, dass er etwas zeichnete als er für einen kurzen Augenblick aufschaute, mir ein atemberaubendes Lächeln schenkte, und dann wieder runter auf seinen Skizzenblock blickte. Er zeichnete mit einem Kohlestift und sein Handgelenk war dabei so locker, als würde er mit einer Feder nackte Haut entlang fahren. Ich wollte mich gerade etwas anderen widmen, als er mich ansprach: „My lady? Voila!" Er setzte sich gerade hin, drehte sein Skizzenblock um und positionierte es auf seinen Oberschenkel so, dass ich das Bild erkennen konnte. Der Mann neben mir stöhnte auf und verdrehte die Augen. Genauso wie die eine ältere Frau gegenüber, die mir aber dazu noch einen komischen Blick zu warf, der zu sagen schien: „Also das ist ja mal wirklich das Größte! Sind sie wirklich so leicht zu haben, zu durchschauen? Sehen sie nicht, wie dieser schleimige Typ sie um die Finger wickelt? So leicht war die Jugend früher nicht zu haben." Doch mir war es egal, wenn ich hämische und anklagende Blicke von allen Seiten erntete. Dieser junge Mann war erstaunlich gut. Sein Kunstwerk zeigte mich auf so einer abstrakten Art wie ich es noch nie gesehen habe. Ich war vollkommen begeistert. Vorsichtig riss er das Blatt ab und überreichte es mir. „Danke", sagte ich leise und nahm es ihn ab. Weitere Sekunden schaute ich es an. Es war Kunst, keine Frage. Ich schaute wieder auf und sah den jungen Mann wieder zeichnen. Doch anstatt mich anzuschauen, blickte er den Herrn neben mir an. Wütend plustert der sich auf und schaut ihn bedrohlich an: „Ihre scheiß Kunst können sie sich sonst wohin stecken, mein lieber Herr!" Ich war entrüstet, aber der junge Mann nicht. Seelenruhig zeichnete er mit solch einer Präzision weiter. Ich wollte ihn fotografieren, wie oft kann man so etwas in einer Berliner U-Bahn schon erblicken? Ein schönes Bild hätte das gemacht. Ich hätte es ‚verloren' genannt. Einfach, weil er wie ein verlorenes Ideal gewirkt hat. Ein Schatz, der nicht erkannt werden konnte, aufgrund der Blindheit der Gesellschaft. Er war in diesem Moment wahrscheinlich poetisch.


The Fear Of Being ForgottenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt