er nannte mich May.

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Das kleine Mädchen sprang vor Vorfreude. Ihre Mutter stand dicht hinter ihr und lächelte milde. Es beeindruckte sie immer wieder, wie schnell ihre Tochter doch wuchs. Dann drehte sie sich wieder um und bearbeitete den Keksteig, den sie zusammen ausstechen wollten. Wie jedes Jahr hatte das kleine Mädchen sich zuerst die hübschesten Förmchen ausgesucht und sie in ihr Geheimversteck gebracht, damit sie auch ja keiner stibitzen konnte. Dann packte sie eins nach dem anderen aus und legte eine Reihenfolge fest, die sie auch aufs Genaueste einhalten würde. Erst das Herz, dann der Stern, als drittes der Schneeman ... Oder doch lieber der Tannenbaum, der ist schöner, danach der Schneeman und als letztes der kleine Elefant. Die restlichen Förmchen sollte ihre Mutter nehmen, doch diese musste unbedingt auch eine genaue Reihenfolge festlegen, damit es von jeder Sorte gleich viele Plätzchen gäbe. Am Schluss jedoch waren von den kleinen Elefanten seltsamerweise immer doppelt so viele wie von den Schneemännern vorhanden. Darüber lachten sie beide immer, da die Mutter jetzt noch einen Keksteig kneten musste, damit die Schneemänner auch wirklich nicht benachteiligt werden würden.

Weihnachten war immer eine schöne Zeit. Vielleicht sogar die Schönste des ganzen Jahres. All die Lichter auf den Straßen, wie sie leuchteten und funkelten. Der süßliche Duft, der durch die Räume strömte. Abende, an denen man neben dem Tannenbaum mit einer dampfenden Tasse Kakao hockte und der alten Musik lauschte, die jedes Jahr zu dieser Zeit gespielt wird. Das alles hatte etwas magisches an sich, das niemand wirklich beschreiben konnte. Es war einfach Weihnachten. Und wenn man Glück hatte, dann gab es sogar weiße Weihnacht. Wenn die ersten Schneeflocken vor dem, mit Eiskristallen bepflanzten Fenster herunterfielen und sich sanft auf den eingefrorenen Boden legten und dann entweder schmolzen, oder einen weißen Teppich bildeten ...
Das kleine Mädchen wohnte mit ihrer Mutter weit außen. Um das einsame Haus herum standen drei Bäume, sie alle ähnelten einem nahezu perfekten Tannenbaum. Jedes Jahr suchten sie sich einen davon aus und beschmückten ihn nach Lust und Laune, doch bis ganz nach oben waren sie noch nie gekommen, denn die Tannenbäume waren riesig. Wenn das kleine Mädchen unter ihnen stand, konnte sie nie bis zu der Spitze sehen, weshalb die Tanne für sie bis zum lieben Gott ragte. Und vielleicht noch weiter, aber dann musste der liebe Gott die Tanne stutzen, weil sie ja nicht unendlich weit wachsen kann.
Um das Mädchen herum bildete sich eine weiße Wolke, da sie sich heimlich ein wenig Mehl genommen und damit einen wirbelnden Schleier geworfen hatte. Lachend setzte sie sich auf den Boden und wischte brav das heruntergefallene Mehl auf ihre kleine Hand. Dann lief sie zu dem Mülleimer und ließ es langsam durch ihre Finger rieseln. Sie rannte zurück zu ihren Förmchen und zeigte ihrer Mutter aufgeregt die neue Reihenfolge. In diesem Moment klopfte es laut an der Tür und ihre Mutter ging langsam den Flur entlang. Sie lugte durch den Türspion und erschrak. Das Mädchen beobachtete, wie sie ihre zitternden Finger an ihrer blauen Jeans abwischte und einmal kurz die Augen schloss. Sie hörte ein tiefes Durchatmen ihrer Mutter und wusste, dass etwas anders war als sonst. Gewaltig anders. Ihre Mutter drehte sich um und sagte leise zu ihrer Tochter: ,,Du musst jetzt ganz stark sein." Langsam drückte sie die silberne Türklinke herunter und öffnete die Tür. Vier große, grimmig dreinblickende Männer standen im Türrahmen. Mit ihnen kam eine unfassbare Kälte in das kleine Haus geweht, als hätte man jegliche Behaglichkeit genommen und in den noch offen stehenden Mülleimer geschmissen. Die Männer murmelten irgendwelche Wörter, die das Mädchen nicht verstand und auch nicht verstehen wollte.
Sie zupften ungeduldig an ihren weißen Kitteln mit den roten Kreuzen. Ihre Ausstrahlung war abweisend und kalt, sodass das kleine Mädchen zu frösteln begann. Einer der Männer betrat die Wohnung und blickte sich kurz um. Als er das Mädchen sah, zogen sich seine buschigen Augenbrauen kurz hoch, doch dann drehte er sich um und brummte den anderen Anweisungen zu.
„Du kommst mit mir." Ein anderer, größerer Mann zeigte mit seinem wurstigen Finger auf das Mädchen. Ihre Mutter neben ihr sackte kurz in sich zusammen und gab ein leises Schluchzen von sich. „Sie wissen, dass es nur diese Möglichkeit gibt.", stieß der erste Mann hervor, „Packen Sie ihre wichtigsten Sachen zusammen. Ich werde draußen auf Sie warten." Damit polterte er die Eingangstreppe wieder runter und verschwand hinter einer Ecke. Die restlichen Männer huschten noch einmal durch die Wohnung, dann waren sie allein.
„Mama!" Das kleine Mädchen blickte hilflos und kurz vor dem Weinen ihre Mutter an. Ihre Augen sammelten Wasser und dann kullerte die erste Träne über ihre gerötete Wange.
„Wir wollten doch noch Plätzchen stechen!" Langsam ließ sie die Ausstechformen in ihren Händen auf den Boden gleiten. Mit einem leisen Klirren stießen sie gegeneinander. „Der kleine Elefant darf nicht traurig sein ... ", flüsterte sie kaum hörbar, doch auch dieser rutschte ihr auf den Boden. Sie lief mit kleinen Schritten auf ihre Mutter zu, die alles durchzuwühlen schien. Doch als das kleine Mädchen versuchte, ihre Hand zu nehmen, hielt sie inne und drehte sich um. Als sie ihre Tochter sah, breitete sich ein warmes Lächeln auf ihren Lippen aus und sie beugte sich zu ihr hinunter.
„Diese Männer werden dir nichts tun. Ich verspreche es dir." Sie seufzte tief. „Es ist nur so, dass ich ein Problem habe und deshalb in die Klinik muss."
„Was heißt Klinik?", fragte sie unschuldig. „Klinik ist das gleiche Wort wie Krankenhaus. Es ist immer schwarz oder weiß."
„Aber ich möchte mitgehen! Ich will nicht alleine hier bleiben. Ich kann keinen Teig selbst ausstechen, das ist doch zu viel für mich!" „Ach meine Kleine ... ", flüsterte sie fast unverstehbar und nahm sie fest in den Arm. „Ich werde zurückkommen. Da bin ich mir ganz sicher." Nach einer Weile fügte sie hinzu: „Und wir werden den Teig fertig ausstechen, das verspreche ich dir."
„Auf den lieben Gott?", fragte sie mit großen Augen.
„Auf den lieben Gott.", erwiderte die Mutter mit zittriger Stimme.
,,Aber jetzt muss ich gehen." Sie drückte ihrer Tochter einen sanften Kuss auf die Stirn und schloss sie fest in die Arme. Dann gingen sie Hand in Hand zur Tür und ihre Mutter machte die Tür wieder auf. Die Männer saßen alle auf den Treppenstufen, doch jetzt stapften sie zu ihnen hoch. Der Mann mit den Wurstfingern griff nach dem Mädchen und riss sie von ihrer Mutter weg. Sie schrie kurz auf, doch dann legte ihre Mutter den Zeigefinger an ihren Mund und sie beruhigte sich wieder.
,,Wo gehe ich jetzt hin?", fragte das Mädchen leise.
,,In ein Haus mit vielen anderen Kindern," antwortete die Mutter, „du wirst bestimmt Spaß haben." Sie nickte erst zögernd, doch dann wurde ihr Blick zuversichtlich. Schnell beugte sie sich zu dem kleinen Mädchen runter, drückte ihr nochmals einen liebevollen Kuss auf die Stirn und murmelte: „Du schaffst das auch ohne mich." „Bis später, Mama!", rief ihre Tochter noch, dann wurde sie von dem Arzt weggezogen, in Richtung eines pechschwarzen Golfs. Ein Mann öffnete ihr hastig die Tür und sie stieg langsam ein.
In dem Wagen war alles grau und düster, so wie die Ärzte. Als sich der Golf in Bewegung setzte, überkam das Mädchen ein komisches Gefühl. Sie hatte Angst, ihre Mutter nie wieder zu sehen. Sie nahm die vorbeiziehenden Landschaften kaum wahr, alles in ihrem Körper konzentrierte sich darauf, nicht zu weinen. Warum musste ihre Mutter weg? Warum hatte sie ihr vor dem Treffen mit den Ärzten nichts gesagt? Nach diesen Gedanken wurde alles in Dunkelheit gehüllt.

Das laute Zuschlagen einer Autotür weckte das Mädchen aus ihrem Alptraum: Sie steht auf der Spitze der großen Tanne Zuhause und sieht den lieben Gott. Doch dieser trägt eine riesige Axt mit sich und kommt, um die Tanne wieder einmal zu stutzen. Das Mädchen ist stumm geworden und so sieht der liebe Gott sie nicht. Mit einem Schlag befindet sie sich im freien Fall in eine tiefe Leere.
Schnell atmend blickte sie sich um und bemerkte zuerst die veränderte Landschaft um sie herum. Sie konnte bis jetzt keinen einzigen Baum erkennen, nur ein paar Sträucher standen verstreut auf diesem riesigen Gelände herum. Vor ihnen wuchs ein imposanter Altbau in die Höhe. Viele Verziehrungen, die jedoch schon ziemlich abgeblättert waren und nicht mehr allzu schön aussahen, prankten an ihm. Die Farbe des Gebäudes sollte wahrscheinlich einmal helles Braun darstellen, doch nun war es eine Mischung aus grau, braun und dunkelrot geworden. Die Fenster waren an den Befestigungen voller Farbe, da der Maler nicht genau genug gearbeitet hatte. Ein Fensterladen hing sogar aus den Angeln heraus und quietschte im Wind. Dafür war die mächtige Tür der Villa sehr herausgeputzt worden. Das dunkle Holz glänzte nur so in der Nachmittagssonne und reflektierte das Licht unangenehm. Das alles nahm das kleine Mädchen innerhalb von eineinhalb Sekunden war, doch sie hatte auch überhaupt nicht viel Zeit dazu gehabt. Ein anderer Arzt öffnete ihr die Tür und nahm sie an der Hand. Die vier gingen mit schnellen Schritten zum Gebäude. Das muss das Haus mit den Kindern sein, dachte sie sich eingeschüchtert. Was, wenn die Kinder nicht nett sind? Was, wenn sie keine Freunde finden würde? Energisch schüttelte sie den Kopf, sodass ihre dunkelblonden Haare aufwirbelten und beschleunigte ihre Schritte. Ihre Mutter wusste, was sie sagte. Der Wurstfinger-Mann wendete sich ihr zu. „Du gehst jetzt rein und stellst dich vor. Danach bekommst du ein Zimmer und dort kannst du dich ausruhen." Ein anderer fügte noch ein: „Wir sind momentan nämlich sehr beschäftigt.", hinzu. Unsicher blickte das kleine Mädchen zwischen den beiden hin und her. Sie verstand alles, was sie gesagt hatten, jedoch wusste sie nicht, was sie jetzt, genau in diesem Augenblick tun sollte.
Ein leichter Wind fegte über den Boden und ließ ein paar Blätter und Erdkrümel über den Gehsteig wirbeln. „Ihr bringt Mama doch wieder zurück, oder?", fragte sie aufblickend, doch die Männer hatten sich schon umgedreht und den Weg zurück zum Golf aufgenommen. Zum zweiten Mal unterdrückte sie den großen Drang, zu weinen. Sie fühlte sich plötzlich so allein gelassen. Langsam drehte sie sich um und bewegte sich auf das massive Holztor zu. Es wurde immer größer und irgendwann wurde dem kleinen Mädchen schwindelig. Mit ihrer gesamten Kraft lehnte sie sich gegen die Tür, da sie so unendlich schwer aussah. Plötzlich jedoch gab die Tür nach und das Mädchen wäre fast schon in das Haus hineingefallen. Erschrocken schnappte sie nach Luft und blickte auf. Vor ihr stand ein Mann, dessen Alter man nicht definieren konnte. Er hätte zwanzig sein können, aber genauso gut auch sechzig. Er trug einen schwarzen Anzug und hatte einen schwarzen Zylinder auf dem Kopf. In seiner Hand trug er eine kleine schwarze Aktentasche. Sein Schnurrbart musste ganz schön kitzeln, denn so einen langen und gedrehten Schnurrbart hatte sie noch nie gesehen. Ein amüsiertes Lächeln lag auf seinen Lippen und das ließ das Herz des Mädchens ein wenig leichter werden.
„Guten Tag, May." Er zog seinen Hut kurz und elegant vom Kopf. Das kleine Mädchen war ganz fasziniert von ihm. Er sah aus wie ein Zauberer aus ihren schönsten Träumen.
„Ich muss mich vorstellen, haben die Männer gesagt.", versuchte sie ihm ihre Situation zu erklären, „Wo muss ich da hin?", fragte sie mit deutlich mehr Zuversicht als zuvor. „Das ist vollkommen dir überlassen." Er lachte leise. „Entweder du gehst nach rechts in dieses Tor, oder nach links in das andere... Vielleicht gehst du auch einfach geradeaus in das Tor dort hinten?" Sie war nun sichtlich verwirrt, doch das machte ihn nur geheimnisvoller. „Bist du ein Zauberer?" Wenn sie diese Frage nicht gestellt hätte, wäre sie wahrscheinlich vor Neugierde geplatzt.
„Jeder ist ein Zauberer, May. Auch du." Er lächelte wieder sein amüsiert wissendes Lächeln und nickte May leicht zu. Dann setzte er sich den Hut wieder auf und richtete seinen Mantel gerade. Das Mädchen beobachtete jede seiner Bewegungen genau, denn sie nahm sich in dem Moment vor, später ein genauso guter Zauberer zu werden. Sie lächelte ihr strahlendstes Lächeln und nickte ihm zu, so wie er es auch getan hatte. Dann lief sie mit geradem Rücken und leicht erhobenen Kinn geradeaus auf eine weitere Holztür zu. May war auf Anhieb einig mit ihrem neuen Namen. Sofort fühlte sie sich hinter ihm sicher und geschützt vor den Blicken der anderen Kinder. Er erschien ihr wie das Klingeln vieler kleiner Glöckchen am Halsband der Rentiere vom Weihnachtsmann, wenn sie sich in die Lüfte erhoben, um die Geschenke zu verteilen.

Vor der Tür blieb sie noch einmal kurz stehen und blickte ein letztes Mal in den wunderbar hellblauen Himmel. Weihnachten würde sie wohl alleine verbringen. Doch ihr Geschenk hatte sie schon bekommen. May.

Lonely ChristmasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt