Sie kommen nachts.
Während du schläfst.
Wenn du glaubst, dass du sicher bist.
Sie holen dich morgens um vier.Sie klingeln.
Sie schlagen an die Tür.
"SOFORT AUFMACHEN! POLIZEI!"Sie kommen in mein Zimmer. Zerren mich aus dem Bett. Sind bewaffnet. Wie Soldaten. Ich komme mir nackt vor in meinem Schlafanzug. Es ist der mit dem rosa Kaninchen.
Nebenan höre ich Opa schreien. Oma redet auf ihn ein, versucht, ihn zu beruhigen. Papa und Onkel Ramush sind wie erstarrt.
"Anziehen! LOS, LOS!", brüllt einer. Er hat einen dunklen Helm auf, dunkle Kleidung, schwarze Stiefel. Auf dem Rücken steht eine Nummer. Auch sein Gesicht ist dunkel.In ihrer gepanzerten Kleidung wirken sie wie Roboter. Mit eckigen Bewegungen. Nichts Menschliches ist an ihnen.
Opa schreit nicht mehr. Er weint jetzt. Wie ein kleines Kind.
Seit der Tumor in seinem Kopf wächst, weint er oft. Früher hat er mir abends Geschichten erzählt. Lustige Geschichten aus einer Zeit, als meine Familie noch durchs Land gefahren ist. Heute kann er sich an die meisten Geschichten nicht mehr erinnern. Oma muss ihm beim Anziehen helfen.Papa hilft Onkel Ramush.
Ramush lebt gern in Rottweil. In der Werkstatt der Lebenshilfe fühlt er sich besonders wohl. Dort sind alle nett zu ihm. Er hat sich gefreut, dass er dort bald arbeiten sollte.Papa arbeitet auch. Jeden Tag geht er in die Untere Lehrstrasse. Dort im Container repariert er Fahrräder. Fahrräder, die von Menschen aus Rottweil gespendet wurden. Er sorgt dafür, dass sie gut fahren. Das das Licht funktioniert. Und die Bremsen. Die reparierten Fahrräder gibt er Menschen, die zu arm sind, um sich neue Räder zu kaufen. Meist Flüchtlinge, so wie wir.
Ich will mich vor den Polizisten nicht ausziehen. Schnell fahre ich in meine Hose. Auch den Pullover ziehe ich über den Schlafanzug. Mein Handy stecke ich in die Jacke. Oma hat eine Handtasche. Papa schnappt sich eine Wasserflasche.
Unter den wachsamen Augen der Polizei schließt Papa die Wohnungstür ab. Zweimal dreht er den Schlüssel um. Wir werden unsere Wohnung nie wieder sehen. Die Möbel, die wir uns zusammengespart haben, werden andere verwenden. Die Teller mit dem blauen Rand, die Onkel Ramush so mag - wir lassen sie zurück. Gestern hat Oma Burek gebacken. Was übrig war, hat sie eingefroren. Ob die Burek noch jemand essen wird?
Aus den anderen Wohnungen dringt kein Laut, als wir durch das Treppenhaus abgeführt werden. Trotzdem bin ich sicher, dass hinter den Türen alle wach sind. Sie haben Angst - und sind erleichtert, dass es heute nicht sie erwischt. Es leben viele Geflüchtete hier in der Eisenbahnstrasse. Manchen wird es so ergehen wie uns heute Nacht.
Vor dem Haus wartet der Mannschaftswagen der Polizei mit laufendem Motor. Mehrere Einsatzfahrzeuge sperren die Straße ab. Weitere Polizei-Soldaten mit Maschinenpistolen im Anschlag beobachten uns.
Während der kurzen Fahrt zur Polizeiwache versucht Papa, jemanden anzurufen. Alle paar Minuten probiert er es. Aber zu dieser Zeit schlafen noch alle. Niemand hilft uns.
In der Wache führen sie uns in einen winzigen Raum. Nur eine Bank steht darin. Wir nehmen uns in den Arm, versuchen, Trost im anderen zu finden. Papa telefoniert, spricht auf eine Mailbox.
Hinter uns wird die Tür abgeschlossen. Wir sind eingesperrt wie Verbrecher.Auf der kleinen Bank haben nur drei Platz. Oma nimmt mich auf den Schoß. Papa steht.
Um sechs Uhr nimmt endlich jemand ab. Papas Mitteilung ist kurz: "Hier Elvis. Sie schieben uns ab. Wir sind auf der Polizeiwache."
Er sagt uns, dass unsere deutschen Freunde uns helfen werden. Sie kennen sich aus mit den Behörden in Deutschland, kennen Anwälte, wissen, welche Rechte Flüchtlinge haben. Sie haben uns schon oft geholfen in den vergangenen Monaten. Wir haben wieder Hoffnung.Die Zellentür wird aufgeschlossen. Zwei unserer Freunde kommen herein, nehmen uns in den Arm. Sie riechen nach Bett, sind genauso ungewaschen wie wir. Aber ihre Gesichter sind ernst, können nicht glauben, was sie sehen. Während sie mit Papa besprechen, was jetzt weiter mit uns geschieht, stehen Polizisten in der Nähe und überwachen uns.
Um sieben geht es los. Wir werden wieder zum Bus geführt. Ich muss vor Aufregung und Angst aufs Klo. Ein Polizist kommt mit und bewacht mich - zum Glück bleibt er vor der Tür. Die Freunde eilen nach Hause, telefonieren mit Anwälten, Organisationen, dem Regierungspräsidium. Stellen einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht.
Inzwischen bringt uns der Mannschaftsbus zur Autobahnpolizei in Zimmern. Dort müssen wir in einen größeren Bus umsteigen. Viele Flüchtlinge aus dem Landkreis Rottweil werden hier zusammengetrieben. Die meisten sind Roma aus Mazedonien und Serbien. Wie wir. Sie haben Angst. Wie wir.Mir fällt meine Ur-Oma ein. Sie ist auf dem Friedhof in Albstadt-Tailfingen beerdigt. Ob wir ihr Grab je wieder besuchen können?
Der große Bus bringt uns zum Baden-Airport. Während wir auf das Flugzeug warten, telefoniert Papa wieder. Der Eilantrag ist bei Gericht. Letzte Dinge werden geregelt. Papa hatte sich 300 Euro von einer Freundin geliehen. Er will, dass die Möbel aus unserer Wohnung verkauft werden, damit die Schulden bezahlt werden. Wir erfahren, dass die Caritas in Skopje ein Büro hat. Aber sie werden nichts für uns tun können. Niemand wird uns helfen können, wenn wir erst wieder in Mazedonien sind. Es gibt keine Unterkünfte für Roma. Keine staatlichen Hilfen. Keine Lebensmittel. Kein Brennholz gegen die Kälte.
Der Wetterbericht meldet für den 10. Januar 2017 in Skopje: starkes Schneetreiben bei minus 21° C.
Aber noch haben wir Hoffnung. Der Eilantrag beim Verwaltungsgericht Freiburg ist noch nicht entschieden. Vielleicht bringt uns die Polizei wieder nach Rottweil. Nach Hause.Eine Stunde später sitzen wir im Flugzeug. Papa bekommt eine SMS. Der Richter hat den Antrag abgelehnt. Als der Flieger startet, lehne ich mich fest an Papa.
Am meisten Angst macht mir, dass Papa jetzt auch weint.Der Text ist im ersten Teil fiktiv. Ich war erst ab dem Zeitpunkt persönlich dabei, als ich die Familie auf der Polizeiwache besucht habe. Besonders betroffen macht mich das Schicksal der 15-jährigen Balkaza. Deshalb habe ich versucht, die Ereignisse aus ihrer Sicht zu schildern. J. Gronmayer