Du vermisst sie wirklich, oder?

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„Karin, ich will das du zurück nach Köln kommst!", überschwänglich öffnete ich die Tür zu Karins Büro und war mir sicher, Karin dieses Mal das sagen zu können, was sie schon während unserer Beziehung von mir hören wollte. Meine Zuversicht erstarb allerdings sofort, als ich Charlotte erkannte, die hinter Karins Schreibtisch stand.

„Das wird sie ganz sicher nicht!", mit diesen Worten drehte sie sich in meine Richtung und bedachte mich mit einem Blick, der nichts Gutes bedeuten konnte.

„Was zum Henker machst denn du hier?"

„Meine Tochter vor dir beschützen. Ich werd nicht zulassen das du ihr nochmal das Herz brichst."

„Was habe ich?"

„Sie war am Boden zerstört als ihr euch getrennt habt."

„Entschuldige? Auf Sievers Hochzeit... Da sah sie aus wie das blühende Leben!"

„Ja, weil sie vor Kummer 10 Kilo abgenommen hatte, obwohl ich ihr jeden Tag einen heißen Kakao gemacht habe. Weißt du wie viele Kühlpads wir verwendet haben, damit wir ihre verheulten Augen wieder hinkriegen?"

„Du? Reden wir von ein und derselben Karin?", ich konnte mir Karin beim besten Willen nicht so vorstellen, wie Charlotte sie gerade beschrieben hatte. Ich konnte und wollte nicht.

„Ja ja, ich weiß sie tut stark, aber das ist sie nicht! Deshalb musst du jetzt der Starke sein. Wenn dir noch irgendwas an ihr liegt, dann lass sie einfach in Ruhe!", ihre Stimme war ernst, ebenso ihr Gesichtsausdruck.

„Und wenn ihr noch irgendwas an mir liegt, dann gibt sie mir 'ne zweite Chance.", ich legte so viel Zuversicht in meine Worte wie ich nur konnte und sah Charlotte direkt an.

„Würdest du denn irgendwas anders machen?"

„Ähm...", ich wusste nicht was ich dazu sagen sollte. Eine simple Frage, die eine einfache Antwort erforderte, aber ich bekam es einfach nicht über meine Lippen.

„Das hab ich mir gedacht."

Bäm!

Die Worte hatten gesessen und ich konnte nicht anders als Charlotte mit offenem Mund anzustarren.

„Ich meine es ernst, Stefan", bemerkte Charlotte kurz bevor sie das Büro verließ.

Ich stand da und war für einige Minuten unfähig mich zu bewegen.

Charlottes Worte hallten in einer Endlosschleife in meinem Kopf wieder:

„Du musst jetzt der Starke sein... Wenn dir was an ihr liegt, lässt du sie in Ruhe."

Ich ließ mich auf einem der Stühle nieder und holte tief Luft.

Immer und immer wieder gingen mir Charlottes Worte durch den Kopf und ich ärgerte mich über mich selbst, dass ich nicht einfach aussprechen konnte, was sie hören wollte.

War ich wirklich nicht bereit dazu, etwas anders zu machen, oder konnte ich es wie so vieles andere einfach nicht aussprechen.

Müßig erhob ich mich und verließ langsam das Schulgebäude.

Ich musste hier weg. Raus aus Lemgo und zurück nach Köln.

Bilder brannten sich in meinem Kopf ein. Bilder von einer verheulten Karin, die in einer Wolldecke eingewickelt bei Charlotte auf dem Sofa saß und von ihr mit heißem Kakao versorgt wurde.

Ich versuchte mich abzulenken und trat das Gaspedal voll durch, doch leider war mein heißgeliebter Mercedes kein Rennwagen und rollte weiter im gemächlichem Tempo über die Autobahn.

Als ich endlich wieder in Köln war, stellte ich meinen Wagen ab und ging schnellen Schrittes in meine Stammkneipe.

„Ein Bier, wie immer?", fragte Sabine die Kellnerin und sah über den Zapfhahn hinweg zu mir. „Whiskey, einen Doppelten!". Brachte ich knapp heraus und ließ mich auf einem der Hocker am Tresen nieder.

„Du siehst scheiße aus", stellte sie fest und schob das Glas zu mir. Ich ignorierte ihre Bemerkung und leerte das Glas in einem Zug: „Noch einen!"

Sie zog kurz die Augenbrauen nach oben und füllte das Glas. Alles was ich wollte, war das Gespräch mit Charlotte und die dadurch entstandenen Bilder, die sich in meinem Kopf eingebrannt hatten, vergessen.

Ich griff nach dem Glas und schwenkte es vorsichtig in meiner Hand, während ich die braune Flüssigkeit betrachtete.

„Ärger mit einem Schüler, oder steckt eine Frau dahinter?", Sabine sah kurz von den Gläsern auf, die sie spülte. Ich brummte etwas Unverständliches vor mich hin und leerte das Glas erneut, um es ihr dann gleich wieder hinzustellen. Sie verstand meine Geste und griff erneut nach der Flasche. „Und du meinst, dass ist der richtige Weg?"

Ich zuckte mit den Schultern und nahm erneut einen Schluck, leerte das Glas aber dieses Mal nicht in einem Zug.

Ich verfluchte Charlotte und umklammerte das Glas fester. Warum musste sie dort auf mich warten und woher zum Teufel wusste sie, das ich dort auftauchen würde? Hatte Rose etwa gequatscht? Wieder tauchten die Bilder von Karin vor meinen Augen auf und ich leerte das Glas wieder in einem Zug. Ich hörte auf zu zählen und trank. Ein Glas nach dem anderen schüttete ich in mich hinein und hoffte einfach nur die Bilder in meinem Kopf zu verdrängen.

Der Alkohol entspannte mich und ich ließ mich aufeinen Flirt ein, den eine junge Frau begann. Wenn ich Karin nicht haben darf, warum soll ich dann auf meinen Spaß verzichten? Ich wusste, dass ich mich später dafür hassen würde. Doch der Alkohol übernahm mehr und mehr die Kontrolle über mich. Es kam wie es kommen musste. Es kam wie es immer kam, wenn ich mich betrank. Mein Verstand hatte sich ausgeschaltet und ich dachte nicht mehr mit meinem Kopf. Vielleicht hatte Charlotte Recht und ich hatte Karin wirklich nicht verdient. Als mein Flirt plötzlich begann mich zu küssen musste ich unweigerlich an den letzten Kuss von Karin und mir denken. Warum hatte ich es in dem Moment auch wieder versaut und nicht dort schon reinen Tisch gemacht. Ich dachte die ganze Zeit an Karin und verlor endgültig die Kontrolle über mich.

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