1. Schrottkarre

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Es war schon dunkel, als Sam aus der Bibliothek trat. Er hatte nicht vorgehabt, so lange zu lernen, ansonsten hätte er sein Auto ganz sicher unter einer Straßenlaterne geparkt, und nicht in der hintersten Ecke des Parkplatzes, wo er nun kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Er verwendete sein Handy als improvisierte Taschenlampe, während er die Autoschlüssel aus seiner Tasche fischte. Dennoch war er bereits viel zu nah dran, bevor er die schattenhafte Gestalt bemerkte, die sich gerade an der Fahrertür zu schaffen machte.

Für einen Moment stand er einfach da und blinzelte. Das konnte nicht tatsächlich das sein, wonach es aussah. Er mochte sein Auto, aber es war alt und rostig und die Gangschaltung machte nicht immer, was sie sollte. Niemand stahl so ein Auto. Vielleicht war es einfach eine dumme Verwechslung? Das musste es sein. Sam räusperte sich, trat einen Schritt vor und streckte die Hand nach der Schulter des Typen aus. „Hey!"

Einen Augenblick später machte sein Rücken unsanfte Bekanntschaft mit einer der hinteren Türen, und ein Messer lag an seiner Kehle. Sein Handy fiel klappernd zu Boden, und in der Dunkelheit sah er von seinem Angreifer nicht mehr als das Aufblitzen weißer Zähne.

Okay, ganz definitiv keine Verwechslung.

„Dein Auto?"

Sam schluckte, während seine Gedanken rasten. „Welche Antwort ist die, für die du mich nicht umbringst?"

Sein Angreifer lachte. „Die Wahrheit."

„Dann ja."

„Na, das war erfreulich einfach. Ich muss mir dein Auto für eine Weile ausborgen. Hast du damit ein Problem?"

„Ja!" Erst im nächsten Moment erinnerte sich Sam wieder an das Messer. Aber die Klinge bewegte sich nicht einen Millimeter, die Schneide drückte nur weiter stetig weiter gegen die weiche Haut unter seinem Kinn.

„Ich fürchte, dann haben wir ein Problem."

Scheiße, das konnte nicht tatsächlich passieren, oder? Aber immerhin schien der Typ einigermaßen freundlich zu sein – zumindest für jemanden, der ihn gerade mit einem Messer bedrohte. Vielleicht konnte man mit ihm reden? Sam räusperte sich. „Hör zu, mein Auto ist wirklich nicht viel wert, und ich muss heute noch irgendwie heim kommen. Ich bin sicher, du könntest irgendwas Besseres finden, was du stehlen kannst?" Einen Versuch war es wert, oder?

„Darauf kannst du wetten. Aber heute brauche ich dein Auto." Inzwischen hatten sich Sams Augen ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt, und er sah, wie sein Angreifer sich nachdenklich mit dem Zeigefinger gegen die Unterlippe tippte – während sich gleichzeitig das Messer noch immer keinen Millimeter bewegte Wie macht er das?. „Okay", sagte er schließlich, „ich mache dir einen Vorschlag. Ich bringe dich nach Hause, dann borge ich mir über Nacht dein Auto aus, und morgen hast du's wieder. Versprochen."

„Ist das dein Ernst?" Langsam wurde die ganze Sache wirklich surreal.

„Ja, und mir gefällt der Plan. Also sei ein guter Junge, gibt mir die Schlüssel und steig ein."

Wie um die Worte zu unterstreichen, verstärkte sich der Druck der Klinge ein wenig. Sam beschloss, die Geduld seines Gegenübers besser nicht länger auf die Probe zu stellen, und tat wie geheißen.

Wenig später wurde Sam eher grob in den Beifahrersitz gestoßen. Im Licht der Fahrerkabine entpuppte sich sein Angreifer als blonder Mann, ein wenig älter als er, Stachelfrisur, ein paar Stoppeln am Kinn. Irgendwie attraktiv. Die Mundwinkel des Autodiebs zuckten, als er Sams Blick erwiderte. „Oh, du bist einer von der niedlichen Sorte."

„Niedlich? Ernsthaft? Reicht's nicht, dass du mein Auto stiehlst?"

Der Autodieb grinste. „Ich borge es aus."

FamilienbandeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt