CHAOS ❦ l.p.

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Ich würde meine Hand dafür nicht ins Feuer legen, aber ich glaube, mein neuer Mitbewohner beschwört gerade einen Dämon.

Seit einer halben Stunde versuche ich schon vergeblich, mich auf meine Literaturklausur vorzubereiten. Sie findet morgen zu einer unchristlichen Zeit statt und ich habe kaum etwas gelernt, weil ich damit beschäftigt war, meine knapp bemessene Freizeit im Internet zu verschwenden und mir Videos von Katzen anzuschauen, die mit gesampelter Gratismusik von irgendwelchen Anhöhen fallen. Ich war gerade dabei, zumindest ein winziges Quäntchen an Konzentration zusammenzukratzen, als es beginnt.

Dieser unmenschliche Lärm aus dem gemeinsamen Wohnraum.

Es klingt ein wenig so, als hätte sich ein okkulter Klub zwischen Kühlschrank und illegal positionierten Sofa zusammengefunden, der nun dabei ist, mit verzerrten Stimmen unmetrische Chorgesänge zu rezitieren. Tatsächlich ist eine Art des Rhythmus aus den Worten nicht zu verbannen, die durch den schlecht isolierten Türspalt zu mir dringen, als ich entnervt meine Kopfhörer aus den Ohren nehme. 

Ich schwinge meine Beine über den Rand des Bettes und sehe kurz stirnrunzelnd an mir herab. Zum Lernen habe ich meine Flanell-Pyjamahose angezogen und Hausschuhe mit Puschen auf der Spitze, die ich von meiner Schwester zum Abschied bekommen habe. Noch habe ich den neuen Mitbewohner nicht gesehen, der seit zwei Tagen unter unserem Dach wohnt, aber ich vermute, dass es schlimmere Aufzüge gibt, welche die einen noch schlechteren ersten Eindruck hinterlassen.

„Naja", seufzte ich zu mir selbst und legte meine Hand auf die Klinke. „Dann wird es wohl Zeit."

Ich treffe nicht gerne neue Leute. Vor allem nicht, wenn mich später einmal eine Dusche mit ihnen teilen muss. Das bringt eine Art der Intimität in die Beziehung ein, für die ich schlichtweg nicht bereit bin.

Ich rufe mich selbst zur Rationalität. Nun ja, schlimmer als der letzte kann er wohl nicht sein. Und Mum wäre stolz auf mich, wenn sie erführe, dass ich dieses Mal nur zwei Tage gebraucht habe, um den neuen Mitbewohner kennenzulernen. Beim letzten war ich durch die halb belauschten Gespräche durch den Türspalt nämlich so traumatisiert gewesen, dass es wirklich einen Motivationscoach in Form meiner Schwester gebraucht hatte, um mich davon zu überzeugen, mich zu einer anderen Uhrzeit als den frühen Morgenstunden vor die Tür zu bewegen, damit ich dem verhassten Mitbewohner auf keinen Fall begegnete. Er war ein richtiger Macho, und es überläuft mich bis zum heutigen Tage kalt, wenn ich an sein meckerndes Ziegenlachen denke, das beizeiten in mein Zimmer gewabert ist, wann immer ich versucht habe, seine Existenz auszublenden.

Ein unangenehmes Kribbeln in der Magengrube, das sich immer breit macht, wenn ich neue soziale Kontakte knüpfen muss, überfällt mich und kurz überlege ich, den Lärm da draußen weiter wüten zu lassen und mich stattdessen doch dem Poststrukturalismus zuzuwenden. Plötzlich erscheint auch das transzendentale Signifikat nicht mehr so abturnend. Oder ich schaue einfach weiter Katzenvideos. Der erleuchtete Bildschirm meines Laptops, der auf dem Bett thront und die einzige Lichtquelle in meinem düsteren Zimmer darstellt, zieht mich an wie eine Motte das Licht. Ganze vier Compilations habe ich noch nicht gesehen.

Ich wende mich bestimmt ab. Nein. Erst nach dem neuen Mitbewohner sehen, dann Katzenvideos. Belohnungsaufschub muss sein.

Also drücke ich die Türklinke herab und ziehe die Tür auf. Mein Atem geht flach. Es ist schon ein Zeichen großer Hingabe, das ich das tue.

Ich erwarte alles. Von abstrusen Gestalten in okkulten Kutten und Malerei im Gesicht bis hin zu einer Death-Metal-Rave-Party, deren Anwesenden wie in Trance ihre langhaarigen Köpfe schwingen, aber es empfängt mich Dunkelheit. Es ist fast siebzehn Uhr, die Sonne ist seit einer Stunde hinter den Häuserschluchten verschwunden, und der spartanisch eingerichtete Wohnraum liegt in völliger Düsterheit da. Es ist beinahe noch dunkler, als in meinem eigenen Zimmer und ich taste vorsichtig nach dem Lichtschalter.

Chaos [l.p.]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt