Kapitel 30

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Ein dumpfer Schmerz weckte Vera. Langsam öffnete sie ihre Augen und sah sich um. Sie lag in einem weißen Raum, um sie herum standen Geräte, die ihren Herzschlag kontrollierten. Aaron und Kevin saßen in Sesseln und schienen zu schlafen. Beide sahen so friedlich aus, dass Vera lächeln musste. Sofort bereute sie es, ihre Lippe platzte auf und sie schmeckte Blut. 
   ''Hey, meine Süße'' sagte die sanfte Stimme neben ihr. Cassandra Proi, ihre Mutter, saß auf einem Stuhl neben ihrem Bett. ''Wie geht es dir?'' ihre Stimme klang nur halb so besorgt, wie sie hätte klingen müssen.  
   Benommen sah sie zu Kevin und Aaron, die wie Staturen in ihren Sesseln schliefen.
   ''Seit dem du hier bist, haben sie das Zimmer nicht verlassen'' sagte die harte Stimme ihres Vaters. Er lehnte an der Wand und beobachtete Vera aus der Ferne. 
   ''Wie lange war ich...'' hauchte Vera und schloss die Augen. ''Vier Tage glaube ich''  antwortete ihre Mutter und stand auf. Sie erzählte von Veras Wunden und das sie dabei waren zu heilen, doch Vera hörte ihr nicht zu.   
   Unverwandt sah sie zu Aaron. Vera bemerkte, dass er nicht schlief. Er tat nur so. Auch Kevin war hellwach, er hatte die Lider halb geöffnet und sah zu ihr.    
   ''Schätzchen?'' Vera sah zurück zu ihrer Mutter. ''Wir müssen leider gehen, falls du etwas brauchst ruf uns an'' vorsichtig küsste sie Vera auf die Stirn, wand sich ab und ging mit ihrem Ehemann hinaus. Mein Gott, war das gespielt. Als ob, die sich um mich kümmern würden, dachte Vera.  
   Seufzend setzte sie sich auf und der stechende Schmerz kehrte in ihr Bein zurück. Sie keuchte auf und ließ sich wieder zurück fallen. Behutsam zog sie die Decke beiseite und betrachtete ihr Bein. Ein dicker Verband lag um ihren gesamten Oberschenkel.
   Aaron und Kevin öffneten gleichzeitig die Augen. Verlegen zog sie die Decke wieder über ihr Bein.
   ''Wir haben schon alles gesehen'' sagte Kevin traurig. Er kam auf sie zu, setzte sich ans rechte Fußende und legte seine Hand auf ihren gesunden Knöchel.
   ''Du bist eine Kämpferin'' lobte er lächelnd. Vera wusste nicht, ob sie sich darüber freuen, oder frustriert weinen sollte. 
   Kevin sah zu Aaron und dann wieder zu ihr. ''Ich komme später noch mal.'' Kevin küsste sie auf die Stirn und ging aus dem Zimmer. Nun war sie allein mit Aaron.   
   ''Was ist passiert?'' flüsterte sie und schloss die Augen. Sie hörte wie er aufstand und zu ihr kam, behutsam nahm er ihre Hand. ''Nina und Mia'' erklärte er. 
   Mit voller Wucht kamen ihre Erinnerungen zurück und sie keuchte auf. ''Hast du Schmerzen?'' fragte Aaron besorgt und drückte leicht ihre Hand. Vera schüttelte den Kopf und bereute es auf der Stelle. ''Beweg dich besser nicht'' sanft legte er seine Hand an ihre Wange. 
   Vera öffnete ihre Lider und sah ihm in die orangenen Augen.
   ''Aaron?'' murmelte sie. Unruhig erwiderte er ihren Blick. ''Ja?'' Vera atmete tief ein und aus. ''Danke.'' Er drückte ihre Hand und lächelte sie an. 
   Müde schloss sie die Augen. ''Aaron?'' flüsterte sie wieder und verschränkte ihr Finger mit seinen.
   ''Du solltest schlafen'' riet er ihr. ''Vielleicht'' seufzte sie, öffnete die Augen und versuchte zu lächeln. 
   ''Ich hatte solche Angst'' hauchte sie und Tränen schossen ihr in die Augen. Vorsichtig strich er ihr die Träne von der Wange.
   ''Ich weiß'' flüsterte er und führte ihre Hand an seinen Mund, küsste sie und legte sie wieder ab. ''Schlaf'' sagte er.             Vera senkte die Lider und schlief ein.

Als Vera wieder erwachte, hatte Luise Aarons Platz eingenommen. Sie hatte den Kopf auf die Matratze gelegt und flüsterte unverständliche Dinge. 
   ''Luise, du zerquetscht meine Hand'' sagte Vera leise. Erschrocken ließ Luise ihre Hand los und starrte sie an. 
   Vera sah zu dem Infusionsständer hinauf, wo eine kleine Flasche mit der Aufschrift NaCl + Novalgin hing. 
   ''Wie geht es dir?'' fragte Aaron, der auf der anderen Seite ihres Bettes saß und sie müde betrachtete. Wann hat er das letzte Mal geschlafen? Schlief er überhaupt?! Fragte sie sich.
   ''Ganz ok, denke ich'' antwortete Vera und sah zu Luise. ''Kannst du mir helfen mich aufzusetzen?'' bat sie Luise, die nickte und ihr aufhalf. Aaron drückte auf irgendwelche Knöpfe und das Kopfteil des Bettes fuhr nach oben. ''Danke'' sagte sie.
   ''Sind Kevin und Lea auch hier?'' fragte sie, Luise schüttelte den Kopf und lächelte traurig. ''Sie suchen nach Nina und Mia'' erklärte Luise.
   ''Ich wollte euch etwas sagen,'' begann Vera. ''Ich verdanke euch mein Leben. Ohne euch wäre ich...'' Vera brach ab und schüttelte den Kopf. Ohne euch wäre ich tot, beendete sie im Stillen.  
   Aaron setzte sich auf die Bettkante und strich ihr über die Wange.
   ''Sag so etwas nicht'' meinte Aaron. Seine Berührung tat gut, löste allerdings einen Kälteschauer aus, der sie erzittern ließ. Eine Schmerzwelle fuhr durch ihren Körper und sie verzog das Gesicht.
   ''Sollen wir eine Schwester rufen?'' Luise hatte bereits den Finger auf den Rufknopf. ''Nein'' sagte Vera mit fester Stimme. ''Aber du hast Schmerzen'' bemerkte sie. ''Die werden auch nicht weg gehen, wenn die Schwester hier ist. Ich bekomme schon Schmerzmittel'' Vera deutete auf die Infusion.        
   Entsetzt starrte sie auf ihre angehobene rechte Hand. Sie war eingegipst, ihre Finger leuchteten blau-schwarz. ''Heilige Scheiße'' hauchte sie und ließ die Hand wieder sinken. 
   ''Vera? Geht´s dir wirklich gut?'' fragte Luise unruhig. Vera lachte bitter, ''natürlich, mir ging es noch nie besser! Ich habe eine gebrochene Hand, lauter blaue Flecke, ein Loch in meinem Oberschenkel, dort steckte übrigens ein Schuh drin und mein Rücken fühlt sich an, als hätte ich lauter Prellungen. Was glaubst du, wie es mir geht?!''
  Veras Stimme klang viel fieser, als sie es beabsichtigt hatte. Traurig sah Luise zur Seite. ''Tut mir leid'' sagte Vera. ''Schon gut'' murmelte Luise und lächelte sie an. Aaron sagte nichts.
   Vera sah an sich herab. Sie trug ein weißes Krankenhaushemd und war an sämtlichen Stellen verbunden. Wie lange hab ich nicht mehr geduscht? Unauffällig schnupperte sie an dem Hemdchen. Es roch frisch, doch sie fühlte sich schmutzig.      
   ''Ich muss duschen'' sagte Vera. ''Spinnst du?'' fragte Aaron, er stand auf und verschränkte die Arme vor der Brust.
   In dem Moment kam eine Krankenschwester herein.
   ''Hallo, wie geht es Ihnen heute?'' fragte sie fröhlich. ''Ganz gut'' antwortete Vera ''wissen Sie, ob ich duschen darf?'' Die Schwester sah zur Infusion und dann wieder zu Vera. ''Ja, dass darfst du, allerdings muss jemand dabei sein und ich müsste dich von der Infusion befreien'' sagte sie. ''Ich bin übrigens Schwester Monika'' stellte sich die Schwester vor.
   ''Könnten sie mich dann befreien?'' fragte Vera ungeduldig. Schwester Monika ging auf ihre rechte Seite und Aaron wich vor ihr zurück. Gekonnt löste sie die Infusion von Veras Arm.
   ''So... Wollen Sie, dass ich Ihnen helfe, oder soll ihre Freundin Ihnen helfen?'' fragte Schwester Monika freundlich. ''Ich helfe ihr und falls wir weitere Hilfe benötigen, klingeln wir'' mischte Luise sich ein.
   Schwester Monika und Luise halfen Vera auf die Bettkante. Ihre Füße berührten den Boden. ''So, vorsichtig aufstehen, ich stütze Sie'' versicherte die Schwester und schlang einen Arm um Veras schmale Taille. Vorsichtig stellte sie sich hin. ''Das klappt super'' lobte Schwester Monika und lockerte den Griff um Veras Taille. ''Ich glaub es geht, Sie können mich ruhig los lassen'' sagte Vera und die Schwester folgte ihrer Aufforderung.
   Behutsam setzte sie einen Fuß vor den Anderen. Sie schwankte etwas und Luise umfasste ihre Hüfte, bis sie ihr Gleichgewicht wieder hatte.
   Die Belastung ihres linken Beines schmerzte, doch sie ignorierte es und lief zum Badezimmer, gefolgt von Schwester Monika und Luise. ''Danke für ihre Hilfe, aber ich glaube, den Rest schaffen wir.'' Die Schwester nickte und verließ den Raum.
   ''Bist du dir sicher?'' fragte Luise besorgt. ''Du weißt ja nicht, wie ich mich fühle'' murmelte Vera.
   Luise hatte die Tür hinter sich verschlossen und beobachtete Vera, die sich wackelig am Waschbecken festhielt. 
   ''Alles ok?'' fragte Luise und trat neben sie. ''Seh ich so Scheiße aus, wie ich mich fühle?'' fragte Vera kleinlaut. ''Wahrheit, oder Lüge?'' fragte Luise. Misstrauisch sah sie Luise an. ''Ich weiß nicht, wie du dich fühlst, aber du siehst relativ...bescheiden aus.'' Vera sah auf und blickte in den Spiegel. 
   Ein langer Schnitt zog sich von ihrer linken Stirnhälfte, über die Nase, zu ihrer rechten Wange. Ja, ich seh beschissen aus. Ihre Augen wirkten müde und erschöpft. Ihr Haar hing kraftlos herab.
   ''Soll ich dir beim Ausziehen helfen?'' fragte Luise und legte ihr die Hand auf die Schulter. ''Nein, dass schaffe ich alleine.''
   Mühsam legte Vera ihr Hemdchen ab. Luise sah respektvoll weg. Vera ging auf den langen schmalen Spiegel zu, der an der Wand hing. 
   Ein großer Bluterguss befand sich auf ihrem Bauch. Vorsichtig legte sie den Verband ab, der um ihren Oberschenkel gewickelt war. Die Wunde war tief und so groß wie ein Flaschendeckel. 
   Vera sog die Luft ein und schloss die Augen. Bilder dieser gewalttätigen Nacht, erschienen vor ihrem inneren Auge.
   Luise keuchte, ''heilige Scheiße, dein Rücken...'' Vera betrachte Luise durch den Spiegel. Sie sah Vera geschockt an und Hass flammte in ihren Augen auf. ''Das werden sie bitter bezahlen'' presste Luise hervor. 
   Plötzlich klopfte es an der Tür. ''Alles in Ordnung bei euch?'' fragte Aaron auf der anderen Seite. ''Nein, absolut nicht!'' rief Luise wütend. ''Sei leise'' fauchte Vera.
   ''Was ist denn los?'' fragte Aaron durch die geschlossene Tür. ''Nichts. Alles gut'' sagte Vera und sah wieder in den Spiegel. Sie drehte sich so, dass sie ihren Rücken sehen konnte. ''Scheiße'' flüsterte sie geschockt.  
   Ihr ganzer Rücken war ein einziger Bluterguss, der lila-blau-rot verfärbt war.              ''Mädels, wenn mir niemand antwortet, brech ich dir Tür auf'' sagte Aaron.
    ''Nein, alles gut. Geh'' versicherte Luise und trat neben Vera.
   ''Ich helf dir jetzt in die Dusche und wenn du fertig bist, sagst du Bescheid. Ich werd an der Tür warten.'' Vera schüttelte den Kopf, ''kannst du bitte hier warten?'' Luise nickte. 

Luise hatte auf der Toilette Platz genommen und feilte sich die Nägel, während Vera unter der Dusche stand.
   Das Wasser floss an ihrem Körper herab und färbte sich rosa, als sie sich wusch. Sie stellte das Wasser ab und griff nach dem weißen Krankenhaus Handtuch. Vorsichtig trocknete sie sich ab. Die meisten Stellen ihres Körpers tupfte sie nur ab, weil sie Angst hatte, dass der Schmerz zurückkehren würde. 
   ''Holst du mir Klamotten und sagst du der Schwester, dass sie mein Bein neu
verbinden muss?'' fragte Vera und sah zu Luise, die aufstand und das Bad verließ.
   In einem Handtuch gewickelt saß sie auf der geschlossenen Toilette und wartete auf Luise.
   Es klopfte und die Tür ging auf. Kevin lehnte am Türrahmen.
   ''Das soll ich dir geben'' lässig reichte er ihr ein paar Kleidungsstücke. ''Ähm... Was machst du hier? Kannst du mal bitte wieder gehen? Ich bin nackt'' stotterte Vera unbeholfen und drückte das Handtuch fester um sich.
   Kevin grinste ''Luise sucht eine Schwester und Aaron ist Kaffee holen, wer hätte dir sonst die Klamotten geben sollen?''
   Verlegen stand Vera auf, ging zur Tür und nahm ihre Kleidung entgegen. ''Danke, du kannst jetzt wieder gehen'' mit den Worten drehte sie sich um und warf ihre Sachen ins Waschbecken. 
   ''Ich meins ernst Kevin, verschwi...'' begann Vera und stockte, als er auf sie zu kam.
   ''Was ist das auf deinem Rücken?'' fragte Kevin geschockt. ''Können wir das besprechen, wenn ich mehr anhabe?'' Kevin wich zurück.
   ''Stimmt, ´tschuldigung. Ich warte draußen, wenn du Hilfe brauchst ruf einfach.'' Er verließ den Raum. Erleichtert sackte sie gegen die Wand. 
   Langsam zog sie sich an. Luise hatte ihr ausgerechnet eine Hot-Pen und ein Trägertop mitgebracht. Jede Wunde war deutlich zu sehen. Zögernd ging sie zurück in ihr Zimmer. 
   Eine Schwester stand mit einem Verbandwagen an der Tür und lächelte freundlich. Aaron, Kevin und Luise standen in einer Ecke des Raumes und tuschelten.
    ''Hallo'' sagte Vera. ''Hallo, ich bin Schwester Julia'' sie schob den Verbandwagen vor sich her und blieb vor Vera stehen. Sachte ließ Vera sich aufs Bett fallen und machte das Bein frei. Sie spürte die Blicke, die ihr die Drei zuwarfen. Sorgfältig verband die Schwester ihren Oberschenkel und verabschiedete sich.
   Aaron und Kevin stürmten zu ihr, Luise versuchte sie aufzuhalten, doch sie schaffte es nicht.
   ''Es ist nicht so schlimm wie es aussieht'' flüsterte Vera peinlich berührt.  Aaron und Kevin starrten sie an, als wäre sie ein Außerirdischer. ''Nicht so schlimm?'' sagte Aaron entsetzt. ''Vermutlich ist ihr ganzer Rücken blau'' bemerkte Kevin.
   ''Jungs, es reicht. Seht ihr nicht, wie es Vera geht?'' mischte sich Luise ein, doch sie bemerkten Luise gar nicht. ''Dafür werden sie bezahlen'' knurrte Aaron gefährlich.
   ''Wir müssen gehen'' sagte er mit wild funkelnden Augen. Gemeinsam stürmten sie aus dem Raum, bevor Vera etwas erwidern konnte. 
   Hilfesuchend sah sie zu Luise. ''Schau mich nicht so an. Ich würde es selber erledigen, wenn wir nicht abgemacht hätten, dass einer von uns bei dir bleibt'' sagte sie und setzte sich neben Vera. 
   ''Wäre ich nur früher dort gewesen, dann..'' flüsterte Luise. ''Nein. Du hättest nichts tun können'' entgegnete Vera. Luise darf sich nicht die Schuld daran geben, was passiert ist, ging es ihr durch den Kopf.  
   Plötzlich klopfte es und die Tür wurde geöffnet. Schwester Monika trat ein und faltete die Hände.
   ''Ich habe gerade mit dem Arzt geredet. Du kannst morgen wieder nach Hause'' sagte sie. Dankend nickte Vera.           

Vom Engel geküsst Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt