Streit mit Lea und ein neuer Lebensabschnitt

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Zuhause angekommen erzählte ich meinen Eltern begeistert von der Woche auf dem Internat. Sie hörten mir in Ruhe zu und schienen sich für mich zu freuen. Aber sie sagten mir auch, dass sich mich finanziell nicht unterstützen könnten, würde ich da hin gehen wollen. Aber darüber war ich mir schon längst klar und versicherte ihnen dass ich mich über Bafög informieren würde. So schien es abgemacht. Wenn ich finanziell vom Staat unterstützt werden würde, dürfte ich auf das Internat gehen.

Meine Eltern stellten mir aber auch eine Bedingung. Ich sollte bereits ab der zweiten Hälfte des 11. Schuljahres in die neue Schule gehen, damit ich mich gut eingewöhnen und die besten Chancen für die Oberstufe des Gymnasiums hätte. Einerseits fand ich das nachvollziehbar. Andererseits hatte ich doch Lea versprochen nur mit ihr zusammen auf das Internat zu gehen. Da Lea jünger war als ich, war sie erst in der 10. Klasse. Erst ab der 11. Jahrgangsstufe würde sie also in die gymnasiale Oberstufe kommen und damit auf das Internat gehen können. Bis dahin war noch ein ganzes Jahr!

Oh man, wie sollte ich ihr das beibringen? Sie war diejenige gewesen, die von Anfang an da hin wollte. Und sie war es auch, die mich erst dazu überreden musste, überhaupt einmal dort eine Woche "hineinzuschnuppern" Und jetzt würde ich diejenige sein, die ohne sie in das Internat gehen würde?! Das konnte ich ihr doch nicht antun! - Oder doch?

Aber es war meine einzige Chance Lars wieder zu sehen! Außerdem hatte mir die Schule und das Internat auch sehr gut gefallen. Und meine Eltern hatten ihre Bedingung unwiderruflich festgelegt. Ich würde also nicht noch ein Jahr warten können, bis Lea soweit wäre, denn dann wäre der Zug für mich bereits abgefahren. Nur wie um alles in der Welt sollte ich das nun Lea erklären?

Ich nahm das tragbare Telefon in meine Hand und zögerte, während ich vermutete, was nun geschehen würde: Lea würde unsagbar enttäuscht und sauer sein und vor allem mich daran erinnern, was ich ihr versprochen hatte: Dass wir nur zusammen auf das Internat gehen wollten. Ich wusste, dass ich ihr weh tun und mein Versprechen brechen würde. Aber es ging nicht anders. In gewisser Weise ging es ja auch um meine weitere schulische Zukunft, für die nicht Lea, sondern ich selbst verantwortlich war.

Es kam genauso, wie gedacht, sogar weitaus schlimmer: Lea klang unglaublich enttäuscht, sie war sauer über meine Eltern und versuchte mich zu überreden noch ein Jahr zu warten und schien nicht verstehen zu wollen, dass ich mich bereits entschieden hatte. Sie war so wütend, dass sie den Kontakt zu mir abbrach.
Lange Zeit sprachen wir kein einziges Wort mehr miteinander.

In letzter Sekunde, ungefähr drei Wochen vor Schulbeginn im Januar, erreichte mich die frohe Botschaft: Ich würde Bafög bekommen. Es war alles überprüft worden und das war auch das mindeste. Meine Güte, hatte ich viele Unterlagen an das Bafögamt senden müssen, diese Bürokratie! Aber alle Mühe hatte sich gelohnt, der liebe Staat hatte sich entschlossen mich finanziell zu unterstützen. Ich war so glücklich, dass ich in die Luft sprang. Es war so aufregend! Nur meine Eltern schienen nicht so begeistert zu sein. Meine Mutter fragte mich sogar noch einmal: "Bist du dir sicher, dass du auf das Internat gehen möchtest?" In ihrer Stimme klang seltsam belegt und sehr traurig. Doch, auch wenn ich ihr nicht weh tun wollte, ich war mir sicher! Ich war siebzehn und bereit diesen Schritt in Richtung Selbständigkeit zu gehen. Ich wollte meine Flügel empor schwingen, wie ein junger Adler und in die Freiheit der Selbständigkeit hinauf fliegen. Doch ich wusste, dass ich meine Familie auch vermissen würde. Ich schaute meine Mutter also liebevoll an: "Ach Mama, das Internat ist doch nicht so weit weg. Ich komme euch an den Wochenenden besuchen, ganz oft!"

Dann ging alles ganz schnell. Innerhalb von drei Wochen wurde ich an der Schule und im Internat angemeldet. Ich packte alles, was ich mitnehmen wollte, zusammen und fuhr dann Anfang Januar mit meinen Eltern los. Und schon standen wir im Büro der Mädcheninternats, wo uns die Leiterin des Heims freundlich begrüßte und uns dann in alle Räumlichkeiten herumführte. Da gab es zwei Küchen, Bäder in jedem Stockwerk, einen Computerraum mit Internetzugang, und einige "Tagesräume", die als Aufenthaltsräume zum Quatschen und Spielen, sowie dem gemeinsamen Hausaufgaben machen und dem Fernsehen dienten. Zu meiner großen Freude stand in fast jedem dieser Tagesräume ein Klavier. Ich war nämlich schon traurig gewesen, dass ich mein Klavier Zuhause lassen musste.

Zum Schluss führte uns die Leiterin des Internats in mein zukünftiges Zimmer. Da ich noch in der 11. Klasse sein würde, hätte ich mir eigentlich ein Zimmer mit einem weiteren Mädchen teilen müssen. Denn nur die Mädchen in der Abiturstufe durften ein eigenes Zimmer für sich in Anspruch nehmen, unter anderem weil sie Ruhe für die Vorbereitung auf das Abitur benötigten. Aber ich hatte Glück. Alle in Frage kommenden Zimmer waren bereits doppelt belegt, sodass ich ein Einzelzimmer bekam. Nur ab und zu wurden Mädchen, die das Internat für eine Woche "ausprobieren" wollten, so wie Lea und ich damals, in mein Zimmer gesteckt. Aber das war auszuhalten. Die meiste Zeit genoss ich zu meiner großen Freude die Privilegien einer Abiturientin.

Nachdem ich meine Eltern an diesem ersten Abend im Internat verabschiedet hatte, fühlte ich mich plötzlich sehr einsam. Ich saß in meinem Zimmer auf dem alten Bett und starrte an die kahle, weiße Wand mir gegenüber. Hier war ich nun. War das Ganze wirklich so eine gute Idee gewesen? Das erste Mal war ich ganz auf mich allein gestellt und auf einmal überkam mich großes Heimweh und ich spürte, wie mir plötzlich zum Heulen zumute war. "Mist", sagte ich leise zu mir selbst, "du wirst doch jetzt nicht weinen? Du wolltest doch hier her!" So sehr ich mich auch bemühte, ich konnte meine Tränen nicht zurück halten. Nach einer Weile hörten die Tränen auf und ich merkte, wie müde und erschöpft ich war. Also schlüpfte ich unter die bezogene Zudecke und kuschelte mich so gut es ging in mein Kopfkissen. Die Matratze war weicher, vermutlich mehr durch gelegen,als meine Zuhause. Aber das Kopfkissen und die Zudecke rochen nach dem Waschmittel, dass meine Mutter immer benutzte und dieser Geruch tröstete mich. Hier würde ich selber waschen müssen. Unten im Keller gab es eine Waschküche. Oh man war das peinlich, ich hatte keine Ahnung vom Wäsche waschen. Alles, was ich wusste, war, dass man die Wäsche nach Farben sortieren musste, aber bezüglich der Waschmaschine müsste ich eine Einweisung bekommen.

Meine Güte, morgen würde ich vielleicht Lars wieder sehen! Ob er, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen hatten, nochmal an mich gedacht hatte? Wusste er meinen Namen überhaupt noch? Schließlich war es ja schon ein halbes Jahr her gewesen, seitdem Lea und ich hier gewesen waren. Als ich so an Lars dachte, wurde es mir ganz warm und dieses Kribbeln im Bauch war mit einem Mal wieder da. Unwillkürlich musste ich lächeln. Und mit diesem Lächeln schlief ich glückselig ein.

Die Liebe hat Geduld und es ist nicht die Zeit, die Wunden heilt.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt