Kapitel 1

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Ich schlendere die staubige Landstraße entlang und rücke die Träger meines Rucksacks zurecht, die mir unangenehm in die Schultern schneiden. Warum achte ich eigentlich so pedantisch darauf, nicht vom Grünstreifen abzukommen? Die Gefahr, unter die Räder eines vorbeifahrenden Autos zu geraten, ist verschwindend gering. Seit ich zu Fuß in the Middle of Nowhere unterwegs bin, sind mir genau zwei Fahrzeuge begegnet: Ein verdreckter Tanklastwagen und ein neongelber Zweisitzer, dessen Besitzer die Musikanlage so laut aufgedreht hatte, dass der Technobeat meilenweit zu hören war. Beides keine Mitfahroptionen, die ich ernsthaft in Erwägung ziehen wollte.

Nachmittags bin ich aufgebrochen, mittlerweile ist es fast Mitternacht. Ich habe Hunger, Durst, und meine Füße schmerzen trotz der bequemen Turnschuhe, als wäre ich einen doppelten Marathon gelaufen.

Was ist bloß in mich gefahren? Wann brachte mich je ein Streit mit Dad derart auf die Palme, dass ich, ohne meinen Kopf einzuschalten, aus dem Bauch heraus handelte?

Dieses Mal hat er es natürlich auf die Spitze getrieben, als er von mir verlangte, Henry Senger zu heiraten.

Dennoch hätte ich meine Flucht planen müssen, anstatt Hals über Kopf zu verschwinden. Dabei ist es nicht mal das Schlimmste, dass ich in der Eile nur das Nötigste einpacken konnte. Das Schlimmste an der Sache ist, dass ich keinen Cent in der Tasche habe! Meine Kreditkarte liegt auf der Wäschekommode in meinem Schlafzimmer. Zusammen mit meiner Handtasche und den Ausweispapieren. Ganz sicher habe ich sie dort abgelegt, nachdem ich aus dem Büro kam und mich zum Joggen umzog. Bevor Dad mich mit seiner Hiobsbotschaft überrumpelte. Die letzten zehn Dollar Bargeld, die ich in meinem Rucksack fand, habe ich für den Überlandbus von Toronto nach Lemonville geopfert. Dort wurde ich dann vom Kontrolleur wortwörtlich aus dem Bus geworfen, weil ich die Weiterfahrt nicht bezahlen konnte. Ist mir jemals etwas Peinlicheres passiert?

Mürrisch streiche ich mir eine verschwitzte Strähne meines rabenschwarzen Haars hinters Ohr, die sich aus dem hohen Zopf gelöst hat. Trotz der späten Stunde ist die Augusthitze erdrückend. Zum Glück habe ich vor meinem Aufbruch daran gedacht, mein Businesskostüm gegen Shorts und eine ärmellose Bluse zu tauschen. Ich weiß, das klingt nicht nach der idealen Wanderkleidung, aber es war das Erste, was mir in die Hand fiel, als ich überstürzt meinen Kleiderschrank durchwühlte. Seufzend kicke ich einen Kieselstein mit der Fußspitze an, um ihn nur wenige Meter weiter erneut wegzutreten.

Ich werde noch verrückt, wenn nicht bald jemand vorbeikommt, der mich mitnimmt! Hier draußen in der Wildnis ist an Schlaf nicht zu denken. Darauf hätte ich auch eher kommen können.

Plötzlich höre ich ein Geräusch. Erwartungsvoll blicke ich in die Richtung, aus der das Motorenknattern kommt. Binnen Sekunden spinnt mein Gehirn einen Plan. Mein Herz rast wie wild, denn gleich werde ich etwas völlig Verrücktes tun. Etwas, über das ich nicht nachdenken darf, denn dann würde ich kneifen. Aber ungewöhnliche Situationen erfordern ungewöhnliche Maßnahmen. Und wenn ich mich jemals in einer Ausnahmesituation befunden habe, dann jetzt.

Grillen zirpen in der Ferne. Der Mond wirft sein schwaches Licht durch die wenigen Wolken am Himmel auf die schlecht asphaltierte Straße. Ich kneife die Augen zusammen, als mich die Scheinwerfer blenden. Noch ist der Wagen zu weit entfernt, um Genaueres erkennen zu können. Ich bete zu Gott, dass kein Irrer mit Bleifuß hinter dem Steuer sitzt. Sollte dem doch so sein, würde ich meine Entscheidung gleich schmerzhaft bereuen.

Um mich frei bewegen zu können, lasse ich meinen Rucksack von den Schultern gleiten und lege ihn hinter mir ab, ohne mein Ziel aus den Augen zu verlieren. Die Lichter kommen näher, noch zwanzig Meter, dann würde ich den Fahrzeugtyp erkennen können.

Okay, jetzt oder nie.

Mit einem Satz springe ich auf die Straße, brülle »Halt«, wedle mit den Armen über dem Kopf und hüpfe wie ein Kaninchen auf Speed in die Höhe. Bremsen quietschen. Ein quälendes Aufheulen des Motors, als der Fahrer in die Eisen geht. Vor Schreck verliere ich das Gleichgewicht, strauchle und falle höchst unelegant auf die Seite. Reflexartig reiße ich die Hände hoch, schlage hart auf dem Asphalt auf und gebe einen entsetzten Schrei von mir. Eher aus Schock, denn aus Schmerz. Dennoch – meine Handflächen brennen wie Feuer, als ich mich aufsetze und den Schotter abklopfe. Bin ich eigentlich total bescheuert?

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⏰ Letzte Aktualisierung: Feb 18, 2017 ⏰

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Vicky Who? - GlücksmomenteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt