2. Einsamkeit

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AZAD

„Und weißt du, meine Freunde, die kennen mich am besten
Wir hab'n so viel erlebt zusamm'n, das kann man nicht ersetzen
Das kann man nur versteh'n, wenn man auch dabei war
Uns kann niemand scheiden, denn es gab auch keine Heirat
Ein paar kenn' ich seit dem Dreirad, ein paar sind weggezogen
Doch wo immer wir uns wiedertreffen, da ist dann die Heimat"
SDP feat. Prinz Pi - Echte Freunde

Stumm blickte ich in die Runde meiner Jungs: Okan, Selim, Gençer und Mevlüt saßen wie immer an unserem Stammtisch in der Unibibliothek und durchstöberten Bücher um sich auf die kommenden Klausuren vorzubereiten. Wir waren im zweiten Semester unseres Masters in Maschinenbau und waren ganz fleißige Kanacken. Wahrscheinlich sahen wir für Außenstehende total dumm aus und niemand würde uns zutrauen, dass wir überdurchschnittlich gut in diesem unmenschlich schweren Studiengang waren.

Okan bemerkte mich als erster und grinste mich breit an. Dabei verformten sich seine ohnehin schmalen Augen zu kleinen Schlitzen, und erklärten seinen Spitznamen in unserem Freundeskreis: Japse. Bei diesem Gedanken musste ich unwillkürlich lächeln.

Wie immer war der Platz neben ihm frei, wo ich mich wenige Sekunden später niederließ – spätestens jetzt hatten mich die anderen auch bemerkt und nickten mir zum Gruß zu. Nachdem ich ihnen ebenfalls mit einem Nicken antwortete, bereitete ich mich seelisch auf das Lernen vor. Ehrlich, warum musste das alles so anstrengend sein?

Meine Unterlagen bedeckten den gesamten Platz, der mir zu stand und brachten mich erneut dazu zu überlegen, warum ich diesen Scheiß nochmal studierte.

Weil es dir Spaß macht, du Idiot. Und weil es dein Interessenbereich ist.

Stimmt ja, danke innere Stimme.

„Warst du bei deinen Eltern?", flüsterte mir Okan zu. Mit dem Erwähnen meiner Erzeuger sorgte er dafür, dass meine Laune in den Keller sank und ich nur mit verzogener Mine nickte.

„Du Nichtsnutz! Medizin hättest du studieren sollen", wiederholte sich der Satz meines Vaters – man bräuchte wahrscheinlich 1000 Zeugen um sagen zu können, dass er seine Rolle gut meisterte – und zog meine Laune noch mehr runter.
„Aber Baba, Medizin ist nicht mein Interessenbereich! Ich bin glücklich mit meinen Maschinen", erinnerte ich mich an meine Verteidigung.
Dann sein verächtliches Lachen und der Kommentar meiner Mutter.
„Lass ihn doch Gürkan, dann soll er eben selbst ackern, statt deine Praxis zu übernehmen", ihr abwertender Blick verließ meine Gedanken nicht, sodass ich wieder infrage stellte, ob ich wirklich das Kind von den beiden war.

Sollten Eltern nicht normalerweise ihre Kinder in ihren Entscheidungen unterstützen?

Okans Blick verriet mir, dass er wusste, was mir durch den Kopf ging. Er klopfte mir auf die Schulter und versuchte mich zu trösten – wenn das überhaupt noch möglich war.
Zwischen uns waren Worte überflüssig. Wir sprachen eher mit Körpersprache, Blicken und Gestik.
Ohne mich weiter in depressive Gedanken zu versteigern, widmete ich mich meinen Lernunterlagen, da ich das mehr als nur nötig hatte.

Nach unendlich erscheinenden 4 Stunden des durchgängigen Paukens, stand ich stumm auf und verließ die Bibliothek. Mehr war heute nicht drin – nicht nach der Auseinandersetzung mit meinem Vater.

Gedankenverloren lief ich zu meinem Wagen – den ich heute ausnahmsweise fuhr – und musste automatisch an die Zeit denken, in der ich das Geld dafür zusammengetrommelt hatte. Ich hatte über all die Jahre – sieben an der Zahl – tagein tagaus gearbeitet. Meine Ferien damals an der Schule und nun die vorlesungsfreie Zeit an der Uni verbrachte ich hauptsächlich im Bosch, wo ich jährlich Ferienjobs antrat. Zusätzlich kam mein Erbe von meinem Großvater, sodass ich dieses Jahr das Geld endlich zusammen hatte. Es fühlte sich so unglaublich an diesen Wagen zu fahren.

Fels in der BrandungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt