6. Augsburg

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AZAD

"Die Liebesgabe ist ein Gebet ohne Worte. Und wie jedes Gebet verlangt sie Disziplin - eine Disziplin, die nicht Unterwerfung ist, sondern frei gewählt."

Paulo Coelho - Die Schriften von Accra

„Hadi geçmiş olsun (ungefähre Bedeutung: Endlich haben wir es hinter uns)", lächelte Mevlüt und schlug bei uns allen ein. Er war der letzte aus unserer Gruppe, der den Hörsaal verließ - und wie wir alle - hatte auch er im ersten Moment ein fettes Grinsen im Gesicht.

„Gönnt euch die paar Wochen vorlesungsfreie Zeit", lächelte ich, während wir dabei waren uns voneinander zu verabschieden.

„Pass auf dich auf, Azad! Diese Klausurphase hat dich irgendwie total runtergezogen", sprach Selim leise in mein Ohr, während er mich in eine brüderliche Umarmung zog. Verwundert blickte ich ihm ins Gesicht.

Er hatte gemerkt, dass es mir nicht gut geht?

„Guck nicht so", grinste er anschließend und wurde im nächsten Moment wieder ernster. „O kadar vakit geçirdik birlikte, olsun bu kadar ama yani (Wir haben gemeinsam so viel Zeit  verbracht, das ist doch das Mindeste)", sein Blick wurde wieder sanfter, als er merkte, dass ich mich weiter versteifte. „Du musst nichts vor deinen Freunden vorspielen, Azad. Oğlum, biz senin ciğerini biliyoruz (Wörtlich übersetzt: Junge, wir kennen deine Leber. Bedeutet, dass man eine Person sehr gut kennt)", ich merkte ihm an, wie er sich ein Lächeln aufzwang. Mehr als ein Nicken brachte ich nicht zustande.

„Ich glaube wir haben uns Augsburg mehr als nur verdient", grinste Okan neben mir auf dem Beifahrersitz, weswegen ich lachend meinen Kopf schüttelte. „Denkst du wir sehen sie wieder?", fragte er nun etwas unsicherer und fuhr sich kurz übers Gesicht. „Ich hoffe es, Bruder. Egal wie sehr ich Augsburg auch mag, die Fahrt dorthin will ich mir nicht unzählige Male ohne Erfolg geben", kurz schaute ich ihn von der Seite an, ehe ich mich wieder auf den stockenden Verkehr auf der Autobahn konzentrierte.

„Azad", brach Okan die Stille - falls man denn Kontra Ks Stimme im Hintergrund als Stille bezeichnen durfte - und entlockte mir einen kurzen, zustimmenden Laut, der ihn zum Weitersprechen aufforderte.

„Ist das Leyla Kapitel komplett geschlossen?", fragte er und ließ mich bei ihrem Namen kurz erschaudern. Egal wie oft ich nun sagte, dass ich über sie hinweg war, reagierte mein Körper nicht gerade normal auf ihren Namen. „Es ist geschlossen in der Hinsicht, dass ich nicht mehr für sie kämpfen werde. Sie hat sich ihren Weg ausgesucht und ich nehme das einfach so hin", zwang ich mich zu einem Lächeln und fuhr mir anschließend über das Gesicht.

„Also nehmen wir hin, dass sie das größte Arschloch", bevor er den Satz zu Ende führen konnte, unterbrach ich ihn mit einem ernsten Gesichtsausdruck und sofort verstummte er. „Ja, wir sehen ihr dabei zu, wie sie Can heiratet, gehen auf ihre Hochzeit, beglückwünschen die beiden und leben unser Leben weiter. Ich habe sie oft genug vor ihm gewarnt, habe ihr meine eigene Liebe gestanden, ihr mehrere Auswege gezeigt, mehr kann ich nicht machen Okan. Für mehr habe ich keine Kraft mehr. Und egal wie schlecht Cans Ruf ist, du darfst ihn nicht beleidigen", erklärte ich und verfluchte gleichzeitig meinen Freund dafür, sie in meine Gedanken gebracht zu haben.

Sie war meine Kindheitsfreundin, meine erste Liebe. Wir kannten uns seit der fünften Klasse und sie war das einzige türkische Mädchen in meinem Jahrgang. Wir - Fatih, sie und ich - hatten automatisch Freundschaft geschlossen, anscheinend zog die Herkunft Menschen wirklich an. Wir waren bis zum Ende unserer Schulzeit unzertrennlich und nach Fatihs Tod war sie die einzige Person, die mich – zwar auch kaum, aber im Vergleich zu dem Rest – , erreichte. Neben ihr konnte ich weinen, ließ mich von ihr trösten. Ihre Versuche mich Aufzubauen scheiterten zwar kläglich, doch dass sie nie ging, obwohl ich danach verlangte, war eine Geste, für die ich ihr unendliche Dankbarkeit und Treue schuldig war.

Fels in der BrandungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt