Der Kugelschreiber

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Und wirklich, Lars saß gerade an einem Tisch und unterhielt sich mit jemandem, als ich ihn am nächsten Morgen in der Mensa erspähte. 

So, wie ging das jetzt hier alles von statten? Ich kannte mich ja in der Mensa noch nicht aus. Vorsichtig nahm ich mir ein Tablett, suchte nach einem Teller und fand dann ein Brötchen und zwei einzeln verpackte Ministücken Butter und zwei ebenso kleine Verpackungen Marmelade und legte alles auf meinen Teller. Jetzt brauchte ich nur noch ein Messer und.. ach ja eine Tasse und vielleicht noch etwas zu Trinken. Es war gar nicht so leicht sich hier zu orientieren und alles zu besorgen, was man so für ein Frühstück benötigte. Verstohlen sah ich zu ein paar Schülern hinüber, die gerade gekommen waren und konnte nur staunen mit was für einer Schnelligkeit sie all das erledigten, wofür ich gerade in mühsamer Arbeit bestimmt doppelt so lange gebraucht hatte. Als ich dann aber doch alles zusammen gesucht hatte, was ich meinte für mein Frühstück zu benötigen, steuerte ich auf den Tisch zu, an dem Lars saß. 

Zu meinem Bedauern erhob dieser sich aber gerade in dem Moment, als ich mich setzen wollte. Doch dann sah er mich und-  lächelte. Da waren sie wieder, diese wunderschönen Augen mit den dunklen, endlos langen und gleichzeitig so geraden Wimpern! Ich war wieder wie gelähmt! Und so war ich beinahe überrumpelt, als Lars plötzlich bei mir stand, um mich kurz darauf freundschaftlich zu umarmen. "Hey! Schön dich wieder zu sehen! Gehst du jetzt hier auf die Schule? Vielleicht sieht man sich ja mal. Ich muss jetzt leider gehen, muss zum Unterricht!" Damit schwang er seine Schultasche über eine Schulter und nahm sein Tablett, auf dem ein Teller mit einem ganzen Stapel kleiner Packungen mit Nougatcreme und Butterpapier lag. Unwillkürlich musste ich grinsen. Er schien diese Nougatcreme wirklich zu mögen. "Hi, ja meine Eltern haben mich gestern her gefahren. Ich gehe jetzt hier auf die Schule. Habe heute aber erst zur zweiten Stunde. Man sieht sich! Bis dann!"

Schon war das Gespräch wieder vorbei und Lars machte sich eilends auf den Weg zum Unterricht. Ich dagegen setzte mich mit einem leisem, kaum hörbaren Seufzer an den Tisch und war einfach nur glücklich. Lars hatte mich wieder erkannt und er hatte mit mir geredet. Ja, er hatte mich sogar umarmt! Bei dem Gedanken an seine Umarmung wurde mir ganz warm ums Herz und es kribbelte auf meiner Haut, so wie wenn tausend kleine Ameisenfüße darüber laufen würden. 

"Mist, ich check das einfach nicht!" Frustriert saß ich eines Nachmittags vor dem Schreibtisch in meinem Zimmer, während ich verzweifelt auf meinem Bleistift herumkaute. Als ob ich dadurch auf die richtige Lösung kommen würde. Mathematik war schon immer ein notwendiges Übel gewesen, wobei die Betonung auf Übel liegt. Diese Hausaufgaben waren aber auch verflixt schwierig. Ich war jetzt schon zwei Wochen auf dieser Schule und bemühte mich sehr, mit dem Unterrichtsstoff mit zu kommen. Das gelang mir auch erstaunlich gut. Nur in Mathe hatte ich so meine diversen Probleme. Und so saß ich gerade an einer Mathematikaufgabe, bei der ich einfach nicht weiter kam, als es plötzlich an meiner Zimmertür klopfte. "Ja, herein!", lud ich die Person, die vor der Tür stand, ein. Wer das wohl war? Wer es auch war, er würde mir eine gelungene Ablenkung von diesen nervigen Hausaufgaben sein. Doch als Lars dann ins Zimmer kam, fing mein Herz plötzlich wie wild an zu klopfen und ich konnte vor Aufregung nur noch so Zeug stammeln wie: "Oh, hi Lars, was machst du... äh, wie kommt's...? Schön dich zu sehen! Komm doch rein! Willst du dich setzten?" Hastig sprang ich auf und bot Lars den Stuhl an, auf dem ich gerade gesessen hatte, während ich mich ein wenig weiter weg auf mein Bett setzte.

Lars dagegen wirkte sehr cool und gelassen. Er grinste breit, als er meine Unbeholfenheit und Überraschung bemerkte. Oh mann, warum benahm ich mich auch so peinlich? Dann setzte er sich auf den Stuhl, den ich ihm eben angeboten hatte und fragte: "Und, was machst du so Schönes?" Dann fiel sein Blick auf mein Mathematikbuch und das Rechenheft in denen ich unzählige Rechenwege aufgeschrieben und dann wieder durchgestrichen hatte. Daneben hatte ich einige Zeichen gemalt, die verärgerte Comicfiguren immer benutzen, um zu fluchen, wie etwa einen Wirbelsturm oder einen Totenkopf. Als er das sah, musste er lachen. "Ich sehe schon, Mathe liegt dir, was?" "Nee, eben gar nicht. Kannst du mir nicht vielleicht helfen? Du bist doch eine Jahrgangsstufe über mir!", flehte ich ihn an, während ich ihn mit großen, bettelnden Hundeaugen ansah. "Ich kann's ja mal versuchen!", erwiderte Lars lächelnd und zückte überraschenderweise einen Kugelschreiber, den er in seiner Hosentasche mit sich getragen hatte. - Und wie er mir helfen konnte! Er rechnete mit mir zusammen einige Aufgaben durch und zeigte mir, worauf ich achten musste. Das lief so gut, dass ich in einer halben Stunde mit allen Aufgaben fertig war.  "Danke Lars, mit dir macht Mathe echt Spaß! Ich engagiere dich als mein privater Mathenachhilfelehrer!" rief ich, wobei ich bei dem letzten Teil theatralisch meine Stimme so veränderte, dass sie klang, als ob ich ihm einen offiziellen Ehrentitel verlieh. Und wieder musste Lars lachen. Und er hatte so ein ansteckendes, total sympatisches Lachen, dass ich einfach nur über das ganze Gesicht strahlen konnte. In seiner Gegenwart bekam ich gute Laune, seine Fröhlichkeit war ansteckend. "Klar, wann immer du Hilfe in Mathe brauchst, sag Bescheid und ich komme vorbei. Oder du kommst vorbei... So, ich muss dann auch mal wieder. Muss in die Spülküche. Man sieht sich vielleicht in der Mensa?" "Oh, das ist super! Vielen Dank, ich komme bestimmt auf dein Angebot zurück! Ja, ich komme auch gleich in die Mensa, räume nur noch schnell alles zusammen. Bis nachher dann!" 

Kurz nachdem Lars mein Zimmer verlassen hatte, entdeckte ich beim Aufräumen, dass er seinen Kugelschreiber vergessen hatte. Ich steckte ihn in die Tasche vorne am Bauch meines Kapuzenpullovers, um den Stift beim Abendessen seinem rechtmäßigen Besitzer wieder zu geben. Als ich dann aber in die Mensa kam, war weit und breit kein Lars zu sehen. Mmh, komisch, er hatte doch gesagt, dass er da sein würde. Da fiel mir die laute Musik auf, die hinter einer der Türen in der Mensa aus einem Radio, spielte. Daneben könnte man das Geräusch einer großen Maschine und das Klirren und Scheppern von Geschirr und Besteck hören. Dann war Lars bestimmt noch am Arbeiten. Sollte ich mal kurz nach ihm schauen? "Nein, Sarah, das wirst du jetzt nicht tun! Das ist ja mal mega peinlich, benimm dich doch nicht wie 'ne Klette!", sagte ich zu mir selbst und seufzte in mich hinein. Naja, vielleicht würde er ja gleich heraus kommen und sich zu mir gesellen. Dann könnte ich ihm auch seinen Kugelschreiber zurück geben.

Aber Lars war auch noch während ich mein Abendessen zu mir nahm und mit ein paar anderen Jugendlichen am Tisch in's Gespräch kam, am Arbeiten und so ging ich schließlich ein wenig betrübt wieder zurück ins Mädchenheim und lies mich schließlich, in meinem Zimmer angekommen, auf mein Bett fallen. Ich war ein bisschen traurig und enttäuscht. Ich hatte damit gerechnet, Lars wiedersehen und hatte mich schon darauf gefreut wieder mit ihm reden zu können. Andererseits, versuchte ich mir einzureden, hatte er mir auch nichts versprochen und er hatte heute Abend eben einfach viel zu tun gehabt. Ich wollte ihm keinen Vorwurf machen. Ob ich Lars einfach nachher mal im Jungenheim besuchen gehen sollte? Aber nein, das traute ich mich nicht. Lars hatte mir erzählt, dass er umgezogen war und nicht mehr in dem Zimmer wohnte, in dem Lea und ich ihn in besucht hatten. So müsste ich unten bei der Heimleitung nachfragen, wo Lars wohnt. Unten im Heimbüro hielten sich immer viele Internatsschüler auf. Es war ein Treffpunkt für Jugendlichen. Und jeder würde sich seinen Teil denken, wenn ich da mit hochrotem Kopf nach der Zimmernummer von Lars fragen würde. So offensichtlich wollte ich nicht aller Welt zeigen, dass ich Lars sehr gerne mochte. 

Doch die Zeit verstrich und ich lag immer noch auf meinem Bett und kämpfte mit dem Gedanken Lars besuchen zu gehen. Dann hielt ich es nicht mehr aus. Ich sprang vom Bett auf und ging entschlossenen Schrittes auf die Zimmertür zu, blieb dann noch einmal kurz stehen und fühlte noch einmal vorne an meiner Tasche, ob der Kugelschreiber noch da war. Er hätte ja auch rausgefallen sein können, als ich auf meinem Bett lag. Kurz flackerte Angst wieder in mir auf und ich zögerte, während ich die Türklinke langsam runter drückte. Was ist, wenn mich alle dumm anstarren würden weil ich vor lauter Aufregung, wie schon so oft, nur gestammelte Wortfetzen hervorbrachte, anstatt klar  und selbstbewusst zu sagen, dass ich Lars besuchen wollte? Egal, sollten sie doch dumm schauen. Der verlockende Gedanke bei Lars sein zu können zog mich mit starken Armen, wie ein Sog und um so näher ich dem Jungenheim kam, desto schneller wurden meine Schritte. "Nur schnell sagen, was ich will, den Heimpädagogen melden, dass ich Lars besuche, dann nach seiner Zimmernummer fragen und sofort allen potentiell glotzenden Jugendlichen den Rücken zukehren und wieder aus dem Heimbüro verschwinden." So ging ich im Stillen meinen Plan noch einmal durch und atmete noch einmal tief ein und aus, bevor ich schließlich die Eingangstür zum Wohnheim öffnete und eintrat.

Doch als ich das Büro des Jungenheims betrat, staunte ich nicht schlecht, als ich Lars hinter dem diensthabenden Pädagogen stehen sah. Auf die Jugendlichen, die noch zusätzlich da waren, versuchte ich angestrengt nicht zu achten. Auch Lars schien sichtlich überrascht zu sein. "Oh hi, Sarah! Was verschafft uns die Ehre?", sagte da der Heimpädagoge und blickte mich freundlich an. Ich lächelte schüchtern und sagte dann mit dem größten Selbstbewusstsein, das ich aufbringen konnte: "Ich wollte Lars nur eben seinen Kugelschreiber zurück bringen. Den hat er heute bei mir vergessen!" Oh Mann, vor meinem inneren Auge sah ich mich die flache Hand an meine Stirn hauen und fluchen. Wie konnte ich nur so feige sein? Ich wollte Lars besuchen, bei ihm sein, in seine wunderschönen, blau-grün-gelben Augen, mit den langen Wimpern, sehen und stattdessen stehe ich hier und stammele etwas von wegen: "...nur eben seinen Kugelschreiber zurück bringen..."? 

Doch da kam mir Lars zu Hilfe. Mit einem verschmitzten Grinsen und leuchtenden Augen nahm er schließlich den Kugelschreiber entgegen und bedankte sich bei mir. Er biss sich grinsend auf die Lippen. Doch dann traf mich sein warmer durchdringender Blick und Lars fragte mich schelmisch und es bereits besser wissend: " Und deswegen bist du extra hier her gekommen, um mir meinen Kugelschreiber wieder zu bringen?" Verlegen schaute ich kurz zu Boden und merkte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss, als ich dann so leise, dass nur er es hören konnte, sagte: "Naja, nein... Ich wollte dich sehen!"


Die Liebe hat Geduld und es ist nicht die Zeit, die Wunden heilt.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt