12. Tradition

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AZAD

"Viele Freunde sind käuflich, manche unbezahlbar."

Boz - Bruder (feat. Reeperbahn Kareem & Babacan)

„Mislina hat gesprochen, du hast mich angerufen", grinste Okan mich am Abend an, während er in meinem Türrahmen stand. „Komm doch rein", lächelte ich müde, und tritt widerwillig einen Schritt zur Seite, damit mein Bruder hereintreten konnte. Seine Jacke ausziehend, trat er in meine Wohnung und blieb beim Entdecken eines Scherbenhaufens in meinem Zimmer abrupt mitten im Flur stehen. Warum lag mein Schlafzimmer genau vor der Eingangstür?

Ich hätte die Tür hinter mir schließen sollen.

Stumm begutachtete er mich, sein Blick verfinsterte sich, als er auf meine Hand traf.

„Kır, dök, ama kendini yaralama be kardeşim (Mach alles kaputt, aber verletz dich nicht mein Bruder)", flüsterte er, während er meine Wunde desinfizierte. Sorgfältig tupfte er die offenen Stellen ab, schmierte ein wenig Dexpanthenol-Creme drauf und verband meine Hand anschließend. Die Heilung würde nun nicht so lange andauern – aber was müsste ich mit meiner Seele tun, die umso zerstörter war, als meine Hand.

Während Okan in meiner Küche stand und das Essen, was seine Mutter für mich eingepackt hatte, erwärmte, starrte ich wie paralysiert auf seinen durchtrainierten Rücken. Kurzerhand war das Essen warm und der Tisch gedeckt, sodass ich auf einen der Stühle dirigiert wurde. Stumm saßen wir uns gegenüber. Mein Appetit war mir vergangen – ich dachte, ich hätte meine Aggressionen unter Kontrolle und der Zusammenbruch vor einigen Stunden hatte mir echt zugesetzt. So rührte ich lediglich in der Suppe um, ohne auch nur einen Löffel davon zu meinen Lippen zu führen.

„Es tut mir leid, dass ich nicht da war", brach Okan die Stille und wie auf Knopfdruck schleuderte mein Kopf nach oben. „Spinnst du?", erkundigte ich mich und konnte für einen Moment nicht realisieren, dass er die Schuld auf sich zu ziehen versuchte. „Na ja, hättest du mich erreichen können, wäre es wahrscheinlich gar nicht so weit gekommen", sprach er und zuckte seine Achseln. Ich konnte ihm nicht widersprechen, ich wusste, dass es anders gewesen wäre, wenn ich mit ihm gesprochen hätte.

„Jetzt hör auf dich mit Vorwürfen zu überhäufen, was passiert ist, ist passiert. Iss dein Essen, sonst tue ich es. Anne hat mir die zweite Portion vorenthalten, weil – ich zitiere – ihr Azad auch etwas Anständiges zu essen haben soll", schrieb er mir vor und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Schmunzelnd nahm ich den ersten Schluck der Tomatensuppe, und genoss die Reaktion meines Körpers darauf. Das Essen von Hülya Teyze schmeckte förmlich nach Liebe und ich genoss jedes bisschen, was mir davon zustand. „Kesenize bereket (Möge Gott euer Vermögen vermehren)", lächelte ich meinen Bruder an, während ich mir mit einer Serviette über den Mund wischte.

„Wann arbeitest du wieder?", Okan sah mich schräg von der Seite an und wartete gespannt auf meine Antwort. Inzwischen hatten wir uns auf die Couch in meinem Wohnzimmer gesetzt, da der Esstisch an Bequemlichkeit verlor. „Ab Montag, du?", fragend hob ich meine Augenbraue an, während ich meinen Bruder beobachtete. „Auch", erschöpft fuhr er sich übers Gesicht. „In der Klausurphase gewöhne ich mich viel zu sehr daran, nicht zu arbeiten. Das Reinkommen wird wieder richtig hässlich", er verzog angewidert das Gesicht und brachte mich zum Lachen.

„Ich bin froh drüber. Endlich keine Zeit mehr zum Nachdenken", grinste ich und zuckte lediglich mit den Achseln. Traurig lächelte mich mein Bruder an und legte mir dabei seine Hand aufs Knie. „Ich wünschte, dass ich etwas an deiner Situation ändern könnte", Okans Miene spiegelte seinen inneren Kampf wieder. Ich wusste, dass er alles dafür tun würde, damit ich endlich alles Schlechte hinter mir lassen könnte. Aber das war nicht so leicht, wie sich das alle vorstellten. Das Schlechte war so sehr in meinem Leben integriert, dass ich wahrscheinlich ohne den Gefühlschaos die Krise bekommen würde.

Fels in der BrandungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt