42. Hinüber auf die hässliche Seite

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Es war dunkel und still, als Harry hinaus auf die Straße trat. Weil keine Autos fuhren, drang nicht das stete Rauschen von Motoren an seine Ohren, stattdessen hörte er nur ab und an das Klappern eines Kutschenrades, wenn es über das Kopfsteinpflaster zockelte.

An der Straßenbeleuchtung erkannte Harry, dass er sich jetzt in einer Stadt und nicht mehr auf dem Land befand. An jedem zweiten Haus brannte eine Gaslaterne und tauchte die Straßen in spärliches Licht. Harrys Augen waren allerdings gut genug, um damit zurecht zu kommen und er sah wunderbar.

Weil er keinen Stadtplan besaß und nicht genau wusste, in welche Richtung er gehen musste, um an die Themse zu kommen, legte er den Kopf in den Nacken und schnupperte. Vielleicht konnte er ja Wasser riechen. Alle möglichen Gerüche drangen zu ihm durch. Verschiedene Menschen, Gemüse, das irgendjemand am offenen Fenster gelagert hatte, damit es in der warmen Wohnung nicht verdarb, Ziegenmist, Abfall in Metalltonnen und tatsächlich auch Wasser. Schnuppernd bewegte sich Harry auf den Geruch zu und kam sich dabei ein wenig vor, wie ein Polizeihund. Wann immer er Menschen begegnete, senkte er rasch den Blick und versuchte sich, so normal wie möglich zu verhalten, um nicht aufzufallen.

Er musste lange laufen, kam am Picadilly Circus vorbei, der jetzt gespenstisch leer und dunkel war. Harry kannte diesen Platz nur mit der gigantischen Leuchtreklame und ohne diese, sah es hier recht langweilig aus.

Er nahm eine abfallende Straße und schlug den Weg zum Trafalgar Square ein, wo die großen Löwenstatuen aus Metall zu Füßen von Lord Nelson lagen, der noch immer auf seiner Säule in der Mitte des Platzes stand. Nelson hatte den Blick auf eine lange Straße gerichtet die, wie Harry wusste, zum Houses of Parliament führte. Dort würde er direkt ans Themsenufer gehen können!
Begeistert davon, wie schnell er den Fluss gefunden hatte, lief er los, nahm auf gut Glück einen Weg zwischen zwei Häusern als Abkürzung und kam tatsächlich am Themsenufer an. Er stützte die Hände auf dem kalten Stein der Mauer ab, gegen die das schmutzige Wasser des Flusses schwappte und blickte nach rechts und links. Keine Brücke war zu sehen, soweit das Auge reichte. Die Westminster Bridge, über die er einst mit Louis gegangen war, gab es nicht mehr und auch von der Jubilee Bridge, die früher die Züge auf die andere Seite gebracht hatte, war nichts mehr zu sehen. Den Rest des Flusses konnte Harry von seinem Punkt aus nicht einsehen, denn die Themse schlängelte sich gewunden durch die Stadt. Er bog nach links ab und ging den Fußweg entlang, der ihn Flussaufwärts führte.

Den Blick dabei immer auf die andere Seite gerichtet, stellte Harry fest, dass es dort stockdunkel war. Kein Licht war zu sehen, es war beinahe so, als hätte jemand ein schwarzes Tuch über die Häuser dort gelegt, das alles Licht verschluckte.
Es sah beängstigend aus, wenn er sich hier auf diese Seite umblickte, wo ab und zu ein Licht aus einem Fenster leuchtete. Man hatte das Gefühl, nicht alleine zu sein, aber dort drüben?
Da war nichts.
Und genau dort wollte er unbedingt hin.

Für einen kurzen Moment, war sich Harry nicht sicher, ob er wirklich heute Abend hinüber gehen sollte. Wäre es nicht vielleicht vernünftiger, bei Tag zu gehen, wenn er genug sehen konnte? „Versuch' erstmal eine Brücke zu finden, dann kannst du es dir immer noch überlegen", murmelte er zu sich selbst und ging weiter. Als er die Reste der Waterloo Bridge passiert hatte tauchte endlich ein intaktes Bauwerk auf, das sich über den Fluss spannte und Harry seufzte erleichtert auf. Endlich hatte er einen Weg auf die Südseite gefunden!

Harry beschleunigte seine Schritte und steuerte direkt auf die Blackfriars Bridge zu. Er stieg einen Treppenaufgang hinauf und betrat die Brücke. Auf der Brüstung waren Lampen angebracht, diese wurden allerdings immer weniger, je weiter man über die Brücke ging, bis er sich schließlich in der Dunkelheit befand. Die wenigen Geräusche, die es in der Stadt noch gab, verebbten und Stille drückte ihm auf die Ohren. Das kleinste Geräusch würde er jetzt hören können und sein Körper schaltete auf Alarmbereitschaft.

Als er am Ende der Brücke ankam, hatte sich der Mond durch die Wolken geschoben und sein blasses Licht, spendete genug Helligkeit für Harry, um gut sehen zu können. Quer über die Brücke verlief eine Mauer, die auf der Oberseite mit Stacheldraht versehen war. Sie war so hoch wie eine Gefängnismauer und Harry kletterte mühelos daran hinauf. Er wollte einen Blick dahinter erhaschen. Vorsichtig, um nicht am Draht hängen zu bleiben, schob er den Oberkörper hinüber und blickte nach unten. Eine glatte Betonwand zog sich bis hinunter auf den Boden, der soweit Harry erkennen konnte, mit Schutt übersät war. Die Wand war so glatt wie Glas und keinem Menschen würde es gelingen, daran hinauf zu klettern. Das war also Londons Schutzmaßnahme gehen die Krankheiten.
Harry suchte sich einen Weg die Brücke hinunter und fand einen Backsteinpfeiler, an dem der guten Halt fand. Vorsichtig und ohne ein Geräusch zu verursachen, kletterte er von der Brücke hinunter ans Südufer und befand sich nun an der ehemaligen Promenade, wo im Sommer viele Spaziergänger und Touristen entlanggegangen waren. Jetzt war hier alles dunkel, staubig und trostlos.

Nachdem er einen kurzen Fußmarsch zurückgelegt hatte, fand sich Harry vor einer Ruine wieder, die ohne Zweifel einmal das Globe gewesen war. Die Grundmauern standen noch und bildeten einen Ring, aus dem noch einige verkohlte Holzbalken hervorlugten, sodass es ein wenig aussah wie ein übergroßes Nadelkissen. Ein seltsames Gefühl beschlich Harry, als er vor dem Gebäude stand, in dem sein neues Leben begonnen hatte. Er erinnerte sich Stückchenweise an die Nacht zurück, in der er gedacht hätte, er würde sterben.

Vollkommen in Gedanken hob er die Hand und berührte die Narbe an seinem Hals, die William Shakespeares Zähne dort hinterlassen hatten. Auch nach 160 Jahren war die zerrissene Haut noch immer gut zu sehen und er bezweifelte, dass die Narbe jemals ganz verblassen würde.
Mühsam riss sich Harry vom Gedanken an William los und trat zwischen die Ruinen. Obwohl er sich jetzt vom Südufer ein eigenes Bild gemacht hatte und selbst glaubte, dass Louis hier nicht auf ihn wartete, wollte er sicherheitshalber eine Runde durch die Reste des Globe drehen.

Vorsichtig stieg er über eine niedrige Mauer und kletterte so bis in die Mitte des ehemaligen Theaters. Wenn er sich richtig erinnerte, befand er sich jetzt genau an der Stelle, an der Louis damals gelegen hatte – bewegungslos gemacht durch einen silbernen Dolch.
„Lou?", flüsterte er und drehte sich um sich selbst, um ihn nicht zu übersehen, sollte er tatsächlich hier sein. Doch nichts rührte sich. Harry sprach Louis' Namen noch mehrmals aus, wagte es aber nicht nach ihm zu rufen, denn er wollte keinen der Kranken auf sich aufmerksam machen. Irgendwann musste er einsehen, dass Louis wirklich nicht hier war und kniff die Lippen zusammen.
Er war sich so sicher gewesen, dass er Louis hier finden würde und Tränen verschleierten seinen Blick, als er ein letzten Mal über die Ruinen blickte.

In der Ferne hörte er ein keuchendes Husten und ein Knacken und beschloss, sich rasch wieder davon zu machen. Sicherheitshalber setzte er noch einige Markierungen für Louis, indem er mir den Händen über alles strich, was er auf dem Weg zurück zur Brücke und zum Vampirhotel passierte. Vielleicht fanden sie sich ja über diese Fährte wieder.

.-.-.-.
Der arme Harry. Steht da und Louis ist nicht wie erwartet im Globe. Das muss sehr deprimierend gewesen sein :(

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