Vera und Luise standen vor einem verlassenen, grauem Haus. Die Fassade war alt und mit Sicherheit was sie mal weiß gewesen, doch die Jahre hatten es ergrauen lassen. Ein großer, runder Balkon war über der Eingangstür und ließ das Haus luxuriös wirken. Gepflegte Rosenbüsche zierten den Eingangsbereich.
''Ich möchte dir etwas zeigen'' sagte Luise und öffnete die Eingangstür.
Sie traten in einen großen, hellen Raum, die Möbelstücke waren mit weißen Laken verhüllt. Der Besitzer hatte darauf geachtet, dass kein Möbelstück verdreckte. Vera lief durch den Raum und strich über die weißen Laken. Staub klebte an ihren Fingern. An den Wänden hingen abgedeckte Gemälde und Luise steuerte auf Eines zu.
''Hier habe ich Aaron kennengelernt.'' Behutsam zog sie die Abdeckung von dem Gemälde, dass sich vor ihr befand. Eine riesige Staubwolke wirbelte auf und Vera musste husten. Als die Wolke sich legte, erkannte sie Aaron, der an einem Fluss stand.
''Wann war das?'' fragte Vera und strich über die Malerei. Aaron trug einen schwarzen Frack, ein weißes Leinenhemd und eine weiße Hose. Ein schwarzer Zylinder zierte seinen Kopf und ein aufgeplustertes Halstuch engte seinen Hals ein. Vera vermutete, dass es die Kleidung des 19. Jahrhunderts war. ''19. Jahrhundert'' bestätigte Luise ihre Vermutung.
Neugierig ging Vera auf das nächste Gemälde zu und entblößte es. Ein kleiner Junge, circa 4 Jahre alt stand neben einer großen, schwarzhaarigen Frau. Sie trug ein typisches Barock Kleid. Es war weiß mit einem hauch rosa, kunstvolle goldene Stickereien schmückten ihren Brustkorb. Ihr schwarzes Haar war hochgesteckt und einzelne Strähnen fielen ihr in Locken um die schmalen Schultern. Der Junge trug ein Kleidchen, hielt eine Trommel in der Hand und strahlte die Frau neben sich an. Der Junge hatte blau-graue Augen und ein bezauberndes Lächeln, dass Vera bekannt vorkam. Die Haare des Jungen waren kurz geschnitten und hatten den selben Farbton, wie die Frau neben ihm.
''Er war ein hübsches Kind'' bemerkte Luise und stellte sich neben Vera. ''Wer?'' fragte Vera verwirrt. ''Na, Aaron'' Luise nickte Richtung Gemälde. Dieser Junge hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit Aaron... Außer das Lächeln.
''Sag mal, wie lange kennst du Aaron schon?'' fragte Vera und lief zur Terrassentür.
Der Hof, der sich vor ihr auf tat, war groß, gepflegt und wunderschön. Verschiedene Blumen, in verschiedenen Farben waren symmetrisch in Beeten angeordnet. Eine Hollywoodschaukel stand auf einer großen Steinfläche, umgeben von Blumen.
''Seit 20 Jahren'' sagte Luise, öffnete die Terrassentür und trat hinaus. Gespannt folgte Vera ihr und ließ sich neben Luise nieder. Sie saßen auf der Treppe, die in den Garten führte.
''Aaron hat mich damals gerettet...'' murmelte Luise. ''Aaron half mir, mich in der Welt zurechtzufinden. Für mich war von Anfang an klar, dass ich keine Menschen töten würde, also zeigte Aaron mir, wie ich mich ernähren konnte.''
''Wie ist es passiert?'' fragte Vera kleinlaut und starrte auf ihre Hände. ''Versprich mir, dass du mich nicht hassen wirst..'' sagte Luise und ergriff Veras Hände. Vera spürte, dass es Luise ernst war und Vera nickte zustimmend.
''Ich habe damals in Italien gelebt, gemeinsam mit meiner Familie'' begann Luise. ''Eines Abends bin ich mit Freunden raus gegangen. Wir hatten getrunken und wir waren leichtsinnig. Mein Freund wollte mich nach Hause fahren und...'' kopfschüttelnd vergrub Luise ihr Gesicht in den Händen. ''Wir waren so leichtsinnig..'' hauchte sie. Mitfühlend nahm Vera Luise in den Arm. Sie konnte sich vorstellen, wie die Geschichte endete.
''Wir hatten einen Unfall..'' schluchzte Luise und sah auf. Tränen schimmerten in ihren Augen. ''Nico, war auf der Stelle tot und ich erinnere mich nur daran, wie ich aus dem Auto geflogen bin und gegen einen Baum knallte.'' Luise strich sich über die Augen und lächelte traurig.
''Als ich wieder aufwachte, lag ich auf einem Sofa, in diesem Haus. Aaron saß wachsam auf einem Sessel. Ich spüre noch immer diesen stechenden Schmerz in meinem Hals. Mein ganzer Körper schrie vor Verlangen. In meinem Kiefer spürte ich, wie sich Etwas veränderte, was ich damals nicht verstand. Aaron erklärte mir, was passiert war und was ich ab diesem Tag sein würde... Eine Zeit lang, habe ich ihn dafür gehasst, doch mittlerweile... mittlerweile danke ich ihm dafür'' vorsichtig stand Luise auf, nahm Veras Hand und half ihr auf.
Gemeinsam schlenderten sie zu der Hollywoodschaukel.
''Ich zog nach Deutschland, die Gefahr, dass mich jemand in Italien erkennen würde, war zu hoch. Von meinen Eltern hatte ich seit jenem Tag nichts mehr gehört, ich wusste nur, dass sie umgezogen waren'' erzählte sie weiter.
''Ich habe sie jahrelang gesucht und als ich sie fand... Es hatte sich alles verändert. Meine Eltern waren nicht mehr die, die ich kannte. Also ging ich wieder. Nach einem Jahr kehrte ich zurück, um zu sehen, ob meine Eltern sich verändert hatten, ob sie jetzt glücklich waren. Und ich kann dir sagen, sie waren mehr als nur glücklich, sie hatten ein neues Kind.''
Nachdenklich sah Luise in den Himmel und schubste die Schaukel an.
''Ich werde das Bild nie vergessen. Meine Mutter und ein fremder Säugling. Zuerst war ich eifersüchtig, weil dieses kleine Geschöpf meinen Platz eingenommen hatte... Aber...aber, das hat sich so schnell geändert. Nachdem ich jeden Tag zu dem Haus meiner Eltern gegangen war, schloss ich das Baby in mein Herz. Ihr Lachen, ihre Augen, einfach alles an ihr, war wunderschön und liebenswert'' wieder schimmerten Luises Augen und sie blinzelte. Beschämt sah sie zur Seite. Beruhigend strich Vera Luises Rücken.
''Du liebst sie und das ist wichtig, nichts was du getan hast ändert das'' bestärkte Vera Luise. ''Jahrelang habe ich meine Schwester beobachtet, sie beschützt und darauf geachtet, dass es ihr gut geht.''
''Wieso hast du nie versucht Kontakt zu ihr aufzubauen?'' fragte Vera, denn sie konnte nicht verstehen, wieso Luise ihre Schwester aus der Ferne beobachtete, statt an ihrem Leben teilzuhaben.
Ein beklemmendes Gefühl ergriff Besitz von Vera und ihre Kehle schnürte sich zu.
''Das habe ich.. Als sie 4 oder 5 Jahre alt war, fand ich eine Puppe, die zwischen mehreren Bäumen lag. Sie hatte Stunden nach ihrer Puppe gesucht...'' flüsterte Luise und verstummte.
Plötzlich schlich eine Erinnerung in Veras Bewusstsein. Vera hatte stundenlang geweint, weil sie ihre Lieblingspuppe nicht finden konnte. Ihre Eltern hatten ihr versprochen, eine neue Puppe zu kaufen, doch sie wollte keine neue. Sie hatte trotzig im Garten gesessen, bis sie ein Mädchen bemerkt hatte. Neugierig war sie zu dem Mädchen gegangen, ihre orangenen Augen und das schwarze Haar waren die einzigen Details, an die sich Vera erinnern konnte. Das Mädchen war auf die Knie gefallen, hatte Vera weinend an sich gezogen und auf die Stirn geküsst. Dieses
Mädchen hatte ihre Puppe gefunden. Damals hatte Vera nicht gewusst, warum das Mädchen geweint hatte, doch jetzt wusste sie es.
Geschockt keuchte Vera auf und starrte Luise an. Die Wahrheit machte sich in Vera breit. Unkontrollierte Tränen rannen ihr über die Wangen und nahmen ihr die Sicht. Das kann nicht sein.. Das kann nicht sein..Luise war ihre Schwester.
''Ich war immer da, immer wenn du Schutz brauchtest, war ich da'' schluchzte Luise heiser. Vera konnte es nicht fassen. Von Anfang an, war Luise ihr vertraut vorgekommen. Ihr Haar, ihre Augen und dieses Gesicht. Durch den Vampirismus hatte sie sich verändert, aber sie hatte immer noch Ähnlichkeiten mit dem Mädchen auf den Fotos. Vera schämte sich, es nicht früher bemerkt zu haben, aber sie war zu abgelenkt gewesen. Kevin und Aaron hatten all ihre Aufmerksamkeit beansprucht.
Vera konnte nicht anders, sie fiel Luise um den Hals und weinte bitterlich. Luise drückte Vera an sich und schluchzte in ihr Haar, Tränen befeuchteten ihr Shirt. Lucy ist nicht tot! Lucy lebt!! Schrie eine Stimme in ihr. Sie würde Luise nie wieder los lassen, sie festhalten. Die Gewissheit, dass ihre Schwester lebte und wohl auf war, war das Beste, was Vera passieren konnte.
''Du lebst'' hauchte sie an Luises Hals. Beruhigend strich Luise ihr über den Rücken und löste sich behutsam von ihr. Schweigend sahen sie einander an und hielten sich an den Händen.
''Lucy'' setzte Vera an, doch Luise unterbrach sie kopfschüttelnd. ''Sie ist tot'' erklärte Luise traurig. Verständnisvoll nickte Vera. Sie verstand, dass Luise ihren Namen geändert hatte, nachdem sie gestorben war.
''Ich habe dich und meine Eltern beobachtet und ich konnte spüren, wie sie sich veränderten'' sagte Luise plötzlich. Irritiert sah Vera sie an. ''Früher waren sie anders. Sie waren liebevoll, fürsorglich und die besten Eltern, die man sich vorstellen konnte.''
''Lass gut sein'' meinte Vera, drückte Luises Hand und ließ sie los. Es war nicht nötig, zu erfahren, wie ihre Eltern damals gewesen waren, denn all das würde ihre Sicht nicht ändern.
Es blieb still.
''Also hat Aaron dich...?'' Luise nickte bestätigend. ''Ich glaub er tat es aus Verzweiflung. Er war dreißig Jahre allein gewesen, nachdem das Mädchen, dass sich für Kevin entschied, gestorben war. Ich vermute, er hat einen Freund gebraucht'' erklärte Luise. ''Ward ihr...?'' setzte Vera an, aber es war ihr peinlich danach zu fragen.
''Nein. Wir waren nie zusammen'' grinste Luise. Gott sei Dank! Vera fiel ein Stein vom Herzen. Hätte Luise etwas mit Aaron gehabt, dann... sie brach ihren Gedanken ab.
''Ich habe deine Existenz geheim gehalten, ich wollte nicht, dass du in Schwierigkeiten gerätst'' gab Luise zu. ''Vor drei Jahren, habe ich Aaron das erste Mal von dir erzählt. Er freute sich für mich. Als er dich zum ersten Mal sah, da hat er sich sofort in dich verliebt und ich konnte ihm nicht sagen, dass du meine Schwester bist.
Ich habe ihm erst nach dem Überfall auf dich erzählt, wer du bist.'' ''Und wie hat er reagiert?'' fragte Vera nervös. ''Erst war er sauer auf mich, weil ich ihm nichts gesagt
hatte, doch dann hat er sich gefreut. Er meinte, so seinen beide Schwestern vereint und er hätte sein Glück gefunden'' antwortete Luise lächelnd. Wieder wurde es still.
''Du warst ein hübsches Kind. Nicht einmal die Pubertät konnte dir etwas anhaben'' grinste Luise. Gespielt genervt verdrehte Vera die Augen. ''So etwas musst du sagen, du bist schließlich meine...'' Vera atmete tief durch, ''meine Schwester.''
DU LIEST GERADE
Vom Engel geküsst
ParanormalVera, 18Jahre alt, muss das Shadow and Light Internat besuchen. Verschlossen, wie sie ist, freundet sie sich nur langsam mit anderen an. Als sie dann 6Jugendlichen begegnet ist die Katastrophe schon im vollem Gang. Eigenartige Dinge geschehen. Träu...