2. Flint

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Nicht am nächsten aber am übernächsten Tag hörte Arne, wie jemand versuchte, die Wohnungstür aufzuschließen. Durch den Türspion sah er Karin zusammen mit einem anderen Mann im Flur stehen. Arne erkannte ihn als Greg, den Keyboarder von Karins Band, der eigentlich Gregor hieß. Er war ein gutmütiger, netter Kerl, den Arne gerne auf ein Bier hereingelassen hätte. Doch dann wäre auch Karin über die Schwelle gekommen, und das war etwas, das vorerst nicht mehr passieren durfte. Als er nicht öffnete trat Karin mit voller Wucht gegen die Wohnungstür. Arne sah, wie Greg sich darüber erschreckte und eine Geste machte, sie solle sich beruhigen. Doch mit ein paar Handbewegungen konnte man Karin nicht in Zaum halten.

„Du Volltrottel!", hörte er sie durch die Tür schreien. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Du mich so los wirst!" Pia war an diesem Morgen zum Glück in der Schule. Mit Arne hatte Karin zu dieser Uhrzeit nicht gerechnet. Und auch nicht mit einem ausgetauschten Türschloss.

Arne sagte keinen Ton und riskierte einen weiteren Blick durch den Türspion. „Du feige Sau, ich sehe, dass du hinter der Tür stehst." Sie schob ihr Gesicht in seine Richtung, streckte ihm die Zunge heraus und fuhr anschließend beide Mittelfinger aus. „Ich brauche neue Klamotten, Du Idiot!" Arne erwiderte nichts, irgendwann musste sie ja verschwinden. Sie fluchte vor sich hin, kein Treten mehr. So langsam ließen ihre Kräfte nach. Sehr wahrscheinlich war sie verkatert. Arne schlich auf Socken zurück in die Küche. Er hörte, wie die beiden sich im Flur unterhielten. Kurz danach klackerten Karins hochhackige Schuhe über den Boden bis in den Aufzug hinein. Dann war Stille.

***

Karin hatte keinerlei Interesse am Sorgerecht für Pia. Nach dem Scheidungstermin kam sie auf der Treppe vor dem Gebäude langsam auf Arne zu. Ihre Stimme war brüchig und kaum zu verstehen. „Ich kann mit dem Kind nichts anfangen, sie ist Dein Kind, sie ist genau wie du. Es ist fast so, als hättest du sie geboren. Ich war nur eine Leihmutter für Euch beide, jetzt ist mein Job erledigt."

„Karin, du kannst das nicht ernst meinen. Du brauchst einen Entzug, Karin."

„Na, das ist ja eine hervorragende Idee! Da wäre ich gar nicht drauf gekommen." Ihre Augen waren glasig. Sie schob die dunkelbraunen Haare wie einen Vorhang vor ihr Gesicht und zündete sich eine Zigarette an. Arne hob an, um etwas zu sagen, doch Karin wehrte ab:

„Arne, lass mich. Ich brauche erst mal eine Pause von Euch." Damit drehte sie sich um und ging auf einen Wagen am Bordstein zu, in dem Arne Greg auf dem Rücksitz erkannte. Der wippte leicht mit dem Kopf und lächelte Arne zu. Karin stieg auf der Beifahrerseite ein, am Lenkrad saß Lars, der Gitarrist. Arne sah noch, wie Lars seine Hand auf Karins Oberschenkel platzierte, bevor sie die Tür schloss und der Wagen sich in den Feierabendverkehr einfädelte.

***

Pia entdeckte das Katzenschiff in einer versteckten Bucht, nur ein paar hundert Meter von einem kleinen Fischerhafen entfernt auf einer griechischen Insel.

Nach dem Ärger mit Karin und der Scheidung hatte Arne hier für eine Woche in den Herbstferien eine Ferienwohnung gemietet. Das Klima am Mittelmeer hatte noch genug Wärme, auch wenn viele Souvenirläden und Cafés hatten ihre Rolladenfronten bereits heruntergelassen. Erst in ein paar Monaten würden sich die Touristengruppen wieder wie menschliche Lava durch die Gassen wälzen.

Bei einem Spaziergang durch den kleinen Hafen entdeckte Arne ein Antiquariat mit Büchern und Landkarten. Während er tief in einem Band mit Illustrationen und Seekarten aus dem 18. Jahrhundert versunken war, war Pia am Pier unterwegs und fütterte die Fische mit Weißbrot, das sie vom Mittagessen mitgebracht hatte. Als Arne das Buch nach einer Weile wieder weglegte, konnte er Pia nicht mehr entdecken. Die Hafenmauer war nicht hoch und das Wasser nicht besonders tief. Doch Arne wurde plötzlich klar, wie leichtsinnig es gewesen war, Pia auch nur eine Minute aus den Augen zu lassen. Er stürzte aus dem Laden in Richtung Pier. Seine Blicke fegten im Zickzack über das grünliche, seichte Wasser. Jeden Augenblick erwartete er, Pias blonden Haarschopf neben einem der Fischerboote treiben zu sehen. Auf einem Kutter in der Nähe hingen Tintenfische zum Trocknen an einer Leine in der Sonne. Ein Fischer, der in seinem Leben noch keinen Sonnenschutz benutzt hatte, flickte rauchend eines seiner Netze. Arne schrie ihn fast an: „Haben sie meine Tochter gesehen? Ein kleines Mädchen mit einem blauen T-Shirt." Er hielt dabei seine Hand neben seine Hüfte. Der Fischer nickte ruhig und lächelte. Auch mit der Zahnpflege stand er auf Kriegsfuß. Er zeigte nach rechts, dort reichte eine Felswand, die den Hafen zu einer Seite hin begrenzte, bis an das Ufer heran. In der Mitte der Wand gab es eine ovale mannshohe Öffnung, dahinter war der Strand zu sehen.

Das KatzenschiffWo Geschichten leben. Entdecke jetzt