Geraubter Schlaf

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Olga trat besorgt ans Fenster und blickte hinaus. Der Tag hatte sonnig begonnen; nun, am späten Abend, zogen dunkle Wolken von Westen her auf und aus der Ferne erklang leises Donnergrollen, das vom aufgeregten Schreien der Vögel begleitet wurde.

Die Luft roch bereits nach Regen und war erfüllt von einem leichten, süßen Blütenduft, während sie mit den Gedanken bei ihrer Nichte war, die noch immer weit und breit nicht zu sehen war..

Als es draußen begann in Strömen zu gießen und der Regen bedrohlich laut gegen die Scheiben prasselte, hielt Olga es nicht mehr länger aus.

Da Rasul heute spät in die Nacht arbeiten musste und er nicht abhob, damit sie ihm ihre Sorgen mitteilen konnte, warf sie sich schnell den Mantel um und lief rüber zu ihrer Nachbarin.

Zara hatte ihnen schon oft geholfen und zwischen ihnen hat sich nach den letzten Ereignissen ein enges Band geknüpft. Als sie zitternd vor Kälte an die Tür klopfte, begrüßte sie schon eine erschrockene Zara, die sie hastig und tadelnd ins warme Haus zog und gleichzeitig ihren Mantel abnahm und aufhängte.

"Olga, boshe (oh Gott), was machst du nur für Dinge? Du konntest doch einfach anrufen und ich hätte dir meinen Sohn vorbei geschickt! Jetzt setzt dich erst einmal hin, du bist ja ganz aus der Puste. Ich mache uns nur schnell einen heißen Tee und dann erzählst du mir, was du am Herzen hast."

"Jedenfalls nichts medizinisches, Gott sei Dank", erwiderte Olga und musste desto trotz lächeln.

Zaras bemutternde Art rührte sie und erinnerte sie stets an ihre eigene Mutter, die sie in jungen Zeiten viel zu früh verlassen hatte. Nachdem sie den Tee serviert hatte und Olgas Sorgen mit ernster Miene aufmerksam angehört hatte, rief sie ihren einzigen Sohn zu sich und bat ihn, sein Training ausfallen zu lassen um sich auf die Suche nach Alisha zu begehen.

Auch ihr bedeutete das junge Mädchen viel, das nach der Tragödie ihrer Familie nur noch eine leere Hülle ihrer Selbst zu scheinen sei.

Und obwohl sie stets freundlich und heiter war, jeden mit einem Lächeln begegnete und mit ihren Worten jedes Gemüt besänftigte, konnte sie sich nicht entscheiden, ob dies Charakterstärke war oder bloß eine gut gepflegte Fassade, um ihre innerliche Einsamkeit zu verbergen.  

Als ihr Sohn mit den Autoschlüsseln erschien und sich hastig verabschiedete, entging ihr nicht sein seltsamer Gesichtsausdruck, der Bänder sprach.

Doch schon fiel die Tür ins Schloss und seine Schritte verstummten. So saßen die beiden Frauen schweigend im Wohnzimmer, unfähig, die Geschehnisse um sich herum aufzunehmen. Ihre Teetassen auf dem Tisch waren längst erkaltet, aber sie schienen dies gar nicht zu bemerken.

Irgendwo im Haus tickte eine Uhr, doch nichts konnte die Stille dieser mondlosen Nacht trügen.

 Für Olga war die Zeit stehen geblieben.

You'll never be aloneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt