Spiegelbild

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Sie sah in den Spiegel.
Wer oder was hatte ihr all dass angetan? Die Augenringe, das ungekämmte Haar. Sie sah aus als hätte sie seit Tagen nicht geschlafen, dabei lag sie tagtäglich im Bett. Sie fuhr  über ihr Augenlid. Müde.
Müde war sie - obwohl sie tagtäglich im Bett lag.
Sie wollte sich vom Spiegel abwenden, wollte wieder unter die Bettdecke kriechen und den Gedanken folgen, die sie seit Jahren begleiten. Aber ihre Fingernägel bohrten sich in ihre Lippe. Strichen über den Amorbogen und ließen die rosafarbene Unterlippe  umschlagen. Wie konnte sie so unheimlich durstig sein, wenn ihre Lunge doch voll mit Wasser war? Ihre Luftröhre voll mit dem Gemisch aus Wasserstoff und Sauerstoff.
Ihre Finger ließen von ihrem Gesicht ab. Die braune Farbe ihrer Augen spiegelte sich in dem Glas wieder. So viel hatte sie gesehen. So viele Erinnerungen. So vieles das sie vermisste.  - Und sie dachte bloß an sich. An ihr Lachen. Ihr umbeschwertes Grinsen, dass so albern war. Jetzt war dort bloß noch die geschwungene Linie, die sich immer nach oben zog, wenn es angebracht war.
Es kullerten keine Tränen aus ihren Augen. Sooft war dies geschehen, sooft ohne Grund - ohne ein Ende.
Das salzige Wasser aus ihren Lungen, platschte häufig auf den Boden. Oft fühlte sich ihr Brustkorb dadurch leichter, doch ausgeschöpft schien das Wasser nie. Wie lange musste sie ertrinken, dass all das Nasse in ihren Körper eindringen konnte?
Vielleicht hat sie nie begonnen zu atmen, vielleicht ertrank sie seit Jahren. Sie wusste es selbst nicht mehr. Sie wusste gar nichts mehr.
Ihr Kopf war abermals leer. Leer von Gedanken, leer von Tönen und Farben.
Und voll von allem.
Es waren Stunden, Tage und Monate vergangen. Jahre und Sekunden. Doch alles war so grau und alles war so gleich, dass kein Tag vom anderen zu unterscheiden war.
Jeder Tag verblasste im Meer aus Salz und Blut.
Und sie war so grau und so gleich, dass auch sie vergessen wurde.
Von Menschen. Menschen die sich wie Fische in ihrem Meer aufhielten und nicht Ebbe oder Flut bemerkten.
Sie war im selben Meer wie sie.
Doch wer interessiert sich für ein ertrinkendes Mädchen?
In diesem selbstsüchtigen Pool - war sie wohl die narzisstischste von allen.
Ihre Finger tauchten ins Kalte. Dann ein Bein, zwei. Das Wasser schwappte über den Rand, als ihr ganzer Körper einstieg. Ihr Kopf durchbrach die Oberfläche und das taube Gefühl breitete sich aus. Kein Ton, keine klare Sicht. So hatte sie sich jeden Tag gefühlt.
Stumm und verloren.
Die Luftblasen zerplatzten an der Oberfläche.
Kein Ton drang hindurch.
Keiner konnte sie schreien hören - nie.
Egal wie laut, ihre Stimme war immer unter der spiegelglatten Linie gefangen.
Und ebenso drang auch nichts zu ihr durch.
In diesem unendlich weiten Meer, voller Menschen, war sie Stumm und verloren.
Sie ertrank und ertrank, kam jedoch nie am Grund an.
Ihre Luftröhre, Lunge, voll mit dem salzigen Wasser, doch sie starb nicht.
Wie - wie beendet man alles? All das.
Ihre Finger strichen durch ihr nasses Haar.
Sie will nicht sterben.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 07, 2017 ⏰

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