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Nachdem der Nachmittagsunterricht vorbei war, machte ich mich auf den Weg zum Stall. Da Miss Jones noch nicht zu sehen war, wartete ich draußen – niemals wäre ich alleine hinein gegangen! Miss Jones war wieder nicht pünktlich, heute kam sie fast zwanzig Minuten zu spät. „Emily, es tut mir leid, aber ich war so beschäftigt und dann stand ich auch noch im Stau." „Kein Problem. Haben Sie Ihre Unterlagen inzwischen wieder einigermaßen auf Vordermann gebracht?", fragte ich ehrlich interessiert. „Noch nicht ganz, aber ich arbeite daran. Zum Glück schreibe ich ausschließlich mit Kugelschreiber. Das hat den Vorteil, dass im Falle einer Überschwemmung der Schade nicht so groß ist!", sagte sie lachend. „Aber nun lass und mal an die Arbeit gehen!" Wie beim letzten Mal folgte ich Miss Jones äußerst zögerlich in den Stall. „Warum bist du eigentlich nicht längst schon hineingegangen? Du hättest dich ruhig ein wenig umsehen können!" „Ich gehe doch nicht allein in die Höhle des Löwen", antwortete ich entsetzt. „Die Pferde sind doch in ihren Boxen. Es besteht also keine Gefahr für dich." „Man muss immer mit unvorhergesehenen Dingen rechnen", sagte ich voller Ernst. Natürlich gingen wir wieder zu Charlie. Während Miss Jones seine Box öffnete, hielt ich vorsorglich einen großen Abstand. Immerhin war es möglich, dass Charlie plötzlich aus der Box rannte und mich niedertrampelte. Miss Jones begrüßte in der Zwischenzeit ihr Pferd lange und ausgiebig. Dann wandte sie sich an mich. „Du kannst ruhig näher kommen." „Schon ok, eigentlich muss das gar nicht sein." „Na gut, dann muss ich dich wohl wieder dazu zwingen", erwiderte sie lächelnd. „Versuchen Sie es doch!", sagte ich ebenfalls lachend. Miss Jones ging auf mich zu, nahm meine Hand und versuchte, mich zum Mitkommen zu bewegen. Doch ich blieb standhaft. „Du kannst echt stur sein. Das hast du schon mal mit Charlie gemeinsam. Manchmal benimmt er sich genau so wie du jetzt. Nun gut, wenn du nicht zu ihm willst, dann kommt er eben zu dir." Miss Jones nahm ihr Pferd am Halfter und führte ihn auf mich zu. Ich wich ängstlich zurück. „Emily, so kommen wir nicht weiter! Du musst deine Angst schon überwinden, sonst wird das hier nichts!" Zögernd hob ich also meine Hand und hielt sie Charlie hin. Doch ausgerechnet jetzt gähnte er! Ich schrie auf und zog meine Hand schnell zurück. Miss Jones musste sich wieder einmal das Lachen verkneifen, was ich mehr schlecht als recht gelang. „Das ist nicht witzig", sagte ich sauer. „Ja, es tut mit leid, aber es sah einfach zu komisch aus." „Ich bin eben der geborene Komiker", sagte ich immer noch sauer. „Ich mache mich hier komplett zum Affen und Ihnen gefällt das auch noch." Kurz entschlossen nahm sie wieder meine Hand. „Lass es uns noch mal gemeinsam versuchen!" Wieder hatte ich so ein komisches Kribbeln im Bauch, genau wie gestern. Ich achtete allerdings nicht weiter darauf. Diesmal klappte alles. Miss Jones hielt meine flache Hand fest, damit ich sie nicht wieder weg ziehen konnte. Charlie blies seinen warmen Atem über meine Hand. Am liebsten wäre ich schreiend weggelaufen, aber ich biss die Zähne zusammen. Mir trat der Angstschweiß auf die Stirn, die zwei Minuten kamen mir wie eine halbe Ewigkeit vor. Als ich meine Hand endlich wegziehen konnte, atmete ich erleichtert aus. „War es so schlimm für dich?" Ich nickte nur, denn ich war so fertig, dass ich kein Wort mehr herausbekam. Nachdem ich mich von meinem Schrecken erholt hatte, fragte ich: „Kann ich jetzt bitte gehen?" „Nein, so schnell lasse ich dich nicht gehen. Du wirst mir jetzt helfen Charlie zu satteln und dann kannst du mir beim Reiten zusehen, wenn du magst?!" „Ich muss aber nicht selbst reiten, oder?" „Ich weiß nicht", antwortete Miss Jones ausweichend. Mir war nicht wohl bei der Sache, aber was sollte ich machen? Miss Jones nahm den Führstrick, der an der Box hing, und hakte ihn am Halfter ein. Dann führte sie Charlie nach draußen. Ich folgte den beiden mit deutlichem Abstand, so als gehört ich gar nicht dazu. Als ich nach draußen kam, wartete Miss Jones bereits auf mich. „Warum haben Sie ihn denn noch nicht festgebunden?", fragte ich und deutete auf Charlie. „Weil ich dir zeigen möchte, wie man ein Pferd richtig anbindet." Nachdem das nun erledigt war, reichte mir Miss Jones einen Striegel. „Ich zeige dir jetzt, wie du damit umgehen musst, und dann kümmerst du dich um seine rechte Seite und ich über nehme die linke, dann sind wir umso schneller fertig." „Ach, eigentlich habe ich es gar nicht so eilig!" „Das dachte ich mir schon fast." Da ich wohl nicht darum herum kam, stellte ich mich so weit wie möglich weg vom Pferd. Mit ausgestrecktem Arm begann ich nun, Charlie zu striegeln."Emily, du musst schon näher an ihn ran." „Wieso, es geht doch auch so!" „Tu es doch bitte mir zuliebe." Ach man, warum kam Miss Jones immer wieder mit der „tu es doch mir zuliebe" Tour? Was sollte ich denn dagegen schon sagen? Als es aber ums Hufe auskratzen ging, weigerte ich mich rigoros. Sollte sie doch von mir aus mit ihrer „tu es doch mir zuliebe" Tour kommen, das brachte ihr auch nichts. Da ich fand, dass es für heute wirklich genug war, sah ich ihr nur zu. Die nächste Stunde verbrachte ich damit, meiner Lehrerin beim Reiten zuzusehen. Bei ihr sah das alles so einfach aus. Als sie abstieg versuchte sie mich zu überreden, doch einmal aufs Pferd zu steigen. „Willst du es nicht wenigstens versuchen?" „Nein, ich kann das nicht. Ich würde sterben vor Angst!" „Emily, ich würde dir wirklich sehr gerne helfen, aber das kann ich nur, wenn ich deine ganze Geschichte kenne. Es wäre wirklich hilfreich, wenn du mir von deinem Unfall erzählen würdest. Es muss auch nicht heute sein..." „Hilft es Ihnen denn wirklich, wenn ich Ihnen das erzähle?" „Ich kann dir nicht versprechen, dass es hilft, aber es würde mir sicher helfen dich und deine Gefühle zu verstehen. Aber wie gesagt, es muss nicht heute sein. Wenn du bereit dazu bist, dann kannst du gerne auf mich zukommen." Miss Jones brachte ihr Pferd in den Stall zurück und während sie Charlie absattelte, sah ich mich ein wenig im Stall um. Ganz am Ende des Ganges entdeckte ich eine leere Box, die mir Strohballen gefüllt war. Ich ging zurück zu Miss Jones. Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie hatte ich das Bedürfnis jetzt sofort mit ihr zu sprechen. „Kann ich auch gleich mit Ihnen sprechen?" Zuerst sah sie ein wenig überrascht aus, war dann aber einverstanden. Sie beeilte sich mit dem Absatteln und trat dann aus der Box zu mir in die Stallgasse. „Dort hinten ist eine leere Box. Dort könne wir uns hinsetzen, wenn du möchtest?!" Nachdem wir es uns im Stroh gemütlich gemacht hatten, begann ich zögernd zu erzählen. „Alles begann letztes Jahr in den Sommerferien. Meine Eltern haben mich auf einen Reiterhof geschickt, obwohl sie genau wussten, dass ich Angst vor Pferden habe. Zuerst habe ich mich auch erfolgreich geweigert zu reiten, aber dann habe ich eine Wette verloren und musste doch aufs Pferd. Mir wurde versichert, dass das Pferd total lieb sei und mir nicht passieren konnte. Und anfangs war alles auch ganz schön, aber dann flog ein Flugzeug mit ohrenbetäubendem Lärm über uns hinweg. Das Pferd stieg und raste dann los. Irgendwann konnte ich mich dann nicht mehr auf dem Rücken halten und bin runtergefallen, das Pferd ist über mich drüber gelaufen." Meine Stimme war inzwischen immer leiser geworden und ich merkte gar nicht, dass mir Tränen über die Wangen liefen. Miss Jones legte ihre Hand auf meinen Arm, um mich zu beruhigen. „Wie ging es nach deinem Unfall weiter?", wollte sie wissen. „Ich lag mehrere Wochen im Koma und als ich dann wach geworden bin, hat man mir gesagt, dass man noch nicht weiß, ob ich je wieder würde laufen können. Deshalb musste ich auch monatelang in eine Rehaklinik." Wir schwiegen beide. „Sie sind die erste, mit der ich wirklich darüber gesprochen habe!", sagte ich und wischte mir die Tränen weg. Ich stand auf und wollte die Box verlassen, doch Miss Jones hielt meine Hand fest und zog mich zu ihr zurück. „Wir kriegen das schon hin!", sagte sie leise...

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 10, 2017 ⏰

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