Kapitel 2: Eine überraschende Begegnung

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Über die Schulter im Spiegel meinen Rücken ansehend, stehe ich unter der Dusche. Ich beobachte, wie dort immer wieder etwa 3 Zentimeter große Flügel erst erscheinen und sich wieder einklappen, bis sie nicht mehr zu sehen sind. Sie sind in der Mitte und Musterweise schwarz bis grau, was das Relief betont, und an den Spitzen weiß. Ansonsten sind sie von einem intensiven Grün bis zu einem eher hellen Blau. Wieso ich gerade nicht in Panik ausbreche?... Das wundert mich auch. Doch irgendwie, auch wenn mein Gehirn eigentlich anderer Meinung ist, ist das alles fast normal für mich.

Damals waren die Flügel so winzig, dass der Gedanke daran mir sogar ein kleines Lächeln entlockt.

Eine Stunde später sitze ich im Bus zur Tanzschule. Samira steigt hinzu und mich plagt wieder schlechtes Gewissen. Gerade jetzt wo mir auch noch 3 Zentimeter große Flügel aus dem Rücken wachsen. Doch selbst wenn, wie sollte ich ihr all das erklären. Bestimmt würde sie die Flügel oder das Licht sehen wollen und was würde sie denken, wenn ich auch noch sagte: „Sorry, kann dir die Flügel nicht zeigen, weil sie in meinem Rücken verschwunden sind und das Licht kann ich auch nur in bestimmten Situationen erzeugen, aber glaub mir, ich sag die Wahrheit." Nein, das ginge nicht.

„Cat? Alles ok? Ich habe dich gerade begrüßt. Du bist in letzter Zeit oft so abwesend.", Samira schaut mich besorgt an. Ich winke ab: „Keine Sorge - alles klar, ich bin mit den Gedanken schon ein wenig im Urlaub." Sie lächelt und denkt vermutlich schon an die in zwei Wochen anstehenden Sommerferien.

Als ich aus dem klimatisierten Bus nach draußen steige haut mich die Hitze fast um. Ich werfe einen Blick auf die Uhr und stelle beruhigt fest, dass der Bus heute pünktlich war und wir gemütlich zur Tanzschule laufen können. „Ach ja, ist es in Ordnung, wenn du nachher alleine mit dem Bus fährst? Ich gehe noch mit meiner Mutter Bikinis einkaufen." Meine beste Freundin schaut mich entschuldigend an und ich nicke.

Jetzt ist ein guter Moment ihr alles zu erzählen denke ich. „Du, Sam?" Doch als sie schon nur erwartungsvoll „Ja" sagt verwerfe ich den Gedanken. „Ich hatte die Idee, dass wir morgen mal wieder etwas unternehmen könnten, jetzt wo wir endlich beide Zeit haben." „Ok ich frag mal meine Eltern, ob wir etwas vorhaben, ansonsten finde ich es eine super Idee"

Sie entsperrt ihr Handy, und ich erkenne das Hintergrundbild wieder, welches circa vor einem Jahr entstanden ist. Wir beide waren damals 15 und hatten zusammen gekocht. Ich war zu der Zeit noch etwas kleiner und meine Haare waren heller und lockiger. Inzwischen sind meine kastanienbraun und nicht mehr so ungezügelt, sondern wellen sich nur noch. In meine eisblauen Augen hat sich ein kleiner grüner Stern eingeschlichen. Samira hat sich kaum verändert. Sie hatte damals schon die gleichen dunkelblonden Haare und diese zarten Sommersprossen im Gesicht. Ihre grauen Augen scheinen wie immer nicht zum Gesamtbild zu passen. Doch genau das ist es, was sie irgendwie sympathisch aussehen lässt.

Eine Stunde später verlasse ich die Tanzschule und verabschiede mich noch mit einer Umarmung von den anderen. Ich biege gerade um eine Ecke, als mich jemand von hinten packt, mit der einen Hand mich in eine Einfahrt ziehend und mit der anderen meinen Mund zuhaltend. Ich werde an eine Wand gedrückt. Nun kann ich meinen Angreifer sehen, welcher mit seinem Zeigefinger vor dem Mund mir zu verstehen gibt, dass ich ruhig sein soll. Er lockert seinen Griff allmählich. Der Mann, etwa 30 Jahre alt und gut gebaut, trägt komplett schwarze Klamotten, passt nicht wirklich in diese Stadt.

Er nimmt seine Hand von meinem Mund. Ich bin kurz im Zwiespalt, ob ich schreien soll oder nicht, entscheide mich jedoch dagegen. Stattdessen frage ich leise: „Was wollen Sie von mir?" Er antwortet nicht, sondern zeigt mir nur ein Lederarmband welches er trägt, mit einer Metallverzierung. Das Metallstück glänzt silbern und hat eine rechteckige, schlichte Form. Wie durch einen Lichtstrahl blitzen zwei Flügel auf, die einen Schlag machen und anschließend wieder verschwinden.

Hastig blicke ich in die Augen des Mannes, welcher mir auf einmal nicht mehr so fremd vorkommt. „Ich denke da gibt es einiges zu erklären. Wie wäre es, wenn wir in ein nahegelegenes Café gehen und dort ein wenig weiterreden?" Ich stimme zu und wir laufen ein kurzes Stück nebeneinander, bis wir bei meinem Lieblingscafé ankommen. Zum Glück ist gerade nur wenig los, so dass wir uns in eine Ecke etwas abseits der restlichen Menschen setzen können.

Wieso ich damals so leichtsinnig war und einfach mit einem wildfremdem Mann mitgegangen bin, der mich zudem von hinten gepackt hatte und hinter eine Ecke zerrte wundert mich inzwischen selbst. Hätte das meine Großmutter mitbekommen, hätte sie sich sicherlich Sorgen um mich gemacht. Ihre Meinung ist klar: vor fremden Leuten hat man sich zu hüten.

FeranyoWhere stories live. Discover now