01. Berlandiera lyriata

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Langsam schritt das schmächtige Mädchen die schmalen Gänge des kleinen Blumengeschäftes ab. Mit zierlichen Fingern strich sie zart über die weichen Blätter einer Buntnessel. Solenostermon scutellarioides. Mit geschlossenen Augen beugte sie sich langsam über einen prachtvollen Lavendel um seinen betörenden Duft einzuatmen. Lavandula angustifolia. Mit einem seligen Lächeln auf den blassen Lippen lief sie weiter, während ihr Blick aufmerksam jede einzelne Blume in ihrer Umgebung musterte. Silberblatt neben Salbei neben Seifenkraut. Lija suchte kein bestimmtes Exemplar. Heute nicht.

Vor einem Tisch mit Kräutern blieb sie schließlich stehen. Ihr Teevorrat neigte sich dem Ende zu. Vielleicht sollte man dagegen etwas tun. Gedankenversunken rieb sie über die leuchtend grünen Blätter einer Pfefferminze zwischen ihren Fingern. Mentha x piperita.

Andrerseits hatte sie noch genug Samen zu Hause. Und genügend Zeit, sie hochzuziehen. Genügend Zeit, genügend Muße, genügend Wille. Der Frühling war vor einigen Wochen endlich hereingebrochen und mit ihm eine Zeit des Aufblühens. Nicht nur für ihren Garten.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?"

Vor Schreck zuckte Lija zusammen, riss aus Versehen das Blatt ab. Bestürzt starrte sie es an, hielt sich die flach ausgestreckte Hand vor die weit aufgerissenen Augen, schien panisch zu überlegen, wo sie es hinlegen könnte. Schließlich entschied sie sich für ihren gelben Regenmantel und ließ es vorsichtig in dessen Tasche gleiten.

„Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken."

Langsam drehte sie sich zu dem Jungen hinter ihr um. Der schwarze Pony war zu lang, hing bis in seine schmalen Augen, aber es schien ihn nicht zu stören. Lija fragte sich, ob er damit überhaupt noch etwas sehen konnte. 

„Wer bist du?"

Nicht unbedingt die Frage, die er erwartet hatte. „Ich bin Luhan", antwortete der fremde Junge und lächelte trotzdem. Seine Stimme klang seltsam melodisch. „Ich arbeite hier. Also, wenn du Hilfe brauchst...?"

„Nein ... also, doch. Ich meine ..." Verlegen strich sie sich den Pony aus der Stirn. „Ich suche eigentlich nichts Bestimmtes. Nur ein bisschen ..." Sie lächelte schüchtern und schaffte es nicht, ihm in die Augen zu sehen. „Frühling."

Luhan grinste. „Na, da bist du hier genau richtig. Wie wär's mit einem schönen Tulpenstrauß?" Er lief ein paar Schritte die Reihen runter, deutete dann auf einen Stand voll mit bunten Tulpen. „Du kannst ihn dir selbst zusammenstellen. Unsere neuste Kunden-Aktion. 10 Stück drei Euro."

Aber Lija schüttelte nur den Kopf. „Nein danke", erwiderte sie leise. „Ich mag keine Sträuße."

„Verstehe." Luhan ließ sich nicht beirren. Suchend schweifte sein Blick über die Blumentische. Lijas Hand tastete nach dem Minzblatt in ihrer Tasche. Gerade, als ihre Finger vorsichtig darüber strichen, fand Luhan, was er suchte. Oder sie. Je nachdem.

„Ich glaube, ich habe was für dich gefunden", rief er und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Leichtfüßig führte er Lija in das zweite Gewächshaus, präsentierte ihr stolz einen Stand.

„Wie wäre es mit dieser hier?" Er deutete auf eine kleine Blume mit gelben Blütenblättern. „Sie wird noch ein bisschen größer, aber nicht viel. Insgesamt vielleicht 20 bis 40 Zentimeter. Im Winter müsstest du sie natürlich reinholen, aber wenn sie von Mai bis Juli blüht ist sie eine wahre Bereicherung für deinen Balkon oder deine Terrasse. Aber das Beste ist", er grinste sie verschmitzt an. „Sie riecht nach- "

„Schokolade." Eifrig nickte das Lija, der zerstrubbelte Bob wippte dabei schwungvoll vor und zurück. „Deswegen auch der Name: Berlandiera lyriata. Schokoladenblume."

Wie Blüten Im Wind ○ Luhan ○Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt