Kapitel 2 - Termin

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Kapitel 2 - Termin

Als die dumpfe Taubheit endlich nachlässt, spüre ich, dass ich schwebe. Dass mein zusammengesackter Körper durch die Luft schwebt. Aber erst als ich den kratzigen Stoff des Bettes unter meinen Fingern fühle, bin ich mir sicher, dass mich jemand gefunden und vom Boden gehoben hat. Ein innerer Impuls sagt mir, dass ich die Augen öffnen und schauen soll, wer dort ist. Dass ich mich verteidigen soll, falls nötig. Doch in diesem Moment erscheint mir nichts verlockender, als von irgendwelchen umherziehenden Räubern ermordet zu werden. Nichts, das noch auf dieser Welt wandelt, erscheint mir wichtig genug, um dem Impuls nachzugeben. Und so liege ich weiterhin reglos auf dem mit Stoff überspannten Bett, ohne mich auch nur zu bewegen.
„Severus?", ertönt eine besorgte Stimme neben meinem Ohr, während ich eine kühle Hand spüre, die mir die Haare aus dem Gesicht streicht. Schlagartig öffne ich die Augen und blicke in das bekümmerte Gesicht von Minerva. Ich reiße meinen Arm nach oben, um ihre Hand von meinem Gesicht zu treiben, doch meine Kraft hat mich verlassen. Die Leere in mir erlaubt es mir nicht einmal sie böse anzufunkeln. Stattdessen blicke ich sie ausdruckslos an.
Ihre Gesichtszüge werden immer trauriger und ich kann kleine Tränen in ihren Augen glitzern sehen.
„Wie geht es dir?", fragt sie leise. Ich richte meinen Blick an die Decke, an der dunkle Nikotinflecken zu erkennen sind, und schließe die Augen. So sehr ich mich auch dagegen wehre, doch die Tränen, die aus meinen Augenwinkeln brechen, kann ich nicht zurückhalten. Mein Herz schlägt schwer in meiner Brust und mit jedem weiteren Schlag läuft eine weitere Träne meine Schläfe hinab.
„Es tut mir so leid." Fünf kleine Worte und doch kann ich ihre Trauer genau heraushören. Ich hebe meine Arme und drücke meine Fäuste mit so viel Kraft, wie es mein Körper zulässt, gegen meine Augen.
„Mir tut es auch leid", hauche ich in die Dunkelheit des Zimmers, nicht wissend, ob sie es hört.
„Ich habe dir ein paar Sachen mitgebracht", sagt sie mit belegter Stimme. Langsam lasse ich meine Arme sinken, drehe meinen Kopf zu ihr und blicke sie an. In ihren Augen steht unaussprechliche Traurigkeit geschrieben, doch ihren Mund ziert ein sanftes Lächeln.
„Danke", krächze ich leise. Meine Stimme hat die letzten Tage ziemlich gelitten.
Mit einem Schwenk ihres Zauberstabes vergrößert sie einige meiner Habseligkeiten.
„Es ist nicht viel, aber mehr konnte ich nicht zu fassen bekommen, ehe die Auroren deine Räume gestürmt haben", flüstert sie leise, während sie sorgfältig einige Roben, Hemden und Hosen neben mir auf dem Bett ausbreitet. Daneben legt sie ein paar Fläschchen mit Tränken. „Die hat Poppy mitgegeben."
Sie greift in eine Innentasche ihrer Robe und zieht einen langen, schwarzen Stock heraus. Meinen Zauberstab. Eigentlich sollte mich Erleichterung durchströmen, doch jegliche Emotionen sind minutiös unter Verschluss gehalten. Sorgsam legt sie auch diesen auf meine Kleidung, ehe sie ein Brot, frischen Belag und eine Schüssel mit dampfender Flüssigkeit auf den Nachttisch stellt. Beim Gedanken an Essen verziehe ich mein Gesicht zu einer angewiderten Grimasse, was sie jedoch gekonnt übergeht.
„Ich wusste nicht... Ich dachte...", setzt sie an, während sie die Tasche über alles drüber legt, um die Öffnung auseinanderzuziehen und mir zu zeigen, was im Innern verborgen liegt. Langsam richte ich mich auf, stütze mich auf einem Arm ab und schaue hinein. „Ich dachte du würdest es haben wollen..."
Mein Herz setzt aus, als ich den Inhalt erkenne. Leuchtend rot und gelbe Kleidung liegt darin. Ein Schal, ein Pullover mit einem riesigen H darauf und die graue Schuluniform, die sie eins trug.
Deutlich hörbar reißt meine Brust ein paar Zentimeter weiter auf und ich lasse mich kraftlos nach hinten sacken. Mein Rücken schmerzt beim Aufprall auf die dünne Holzplatte, doch das kümmert mich nicht.
„Es... Es tut mir leid. Wenn du nicht willst, dann nehme ich es mit zurück...", stammelt sie hilflos. 
„Danke, Minerva", hauche ich nur, ehe ich sie erleichtert ausatmen höre.
„Komm, du musst etwas essen und ich habe dir einiges zu erzählen", fordert sie bestimmt, während sie vom Stuhl, den sie sich beschworen hat, aufsteht und mit diesem vor sich herschwebend zum kleinen Tisch geht.
Ich seufze laut, richte mich dann jedoch mühsam auf und folge ihr. Immerhin ist sie der einzige Mensch, der seit drei Tagen in meiner Nähe ist und mich nicht mit mir alleine lässt.
Dennoch widerwillig setze ich mich auf den Stuhl ihr gegenüber und beäuge das Brot, das sich auf einem sauberen Teller von selbst schmiert, misstrauisch. Ich bin mir nicht sicher, ob mein Magen das verträgt.
Langsam lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen, auf der Suche nach meinem Whiskey. Als ich ihn vor meinem Nachttisch stehen sehe, erhebe ich mich, laufe langsam zu ihm, hebe ihn auf und setze ihn, nachdem ich ihn geöffnet habe, direkt an meine Lippen. Den leisen Protest Minervas hinter meinem Rücken spüle ich mit einem großen Schluck, ebenso wie die Trockenheit in meinem Mund, herunter.
Ich lasse die Flasche sinken, atme tief durch und drehe mich um, um zurück zu Minerva zu gehen. Langsam sinke ich auf den Stuhl, starre sie mit nun deutlich verklärterem Blick an, drauf wartend, dass sie anfängt zu erzählen. Sie schüttelt kaum merklich mit ihrem Kopf, ehe sie beginnt.
„Sie suchen dich. Die Auroren. Erst war es ein Verdacht ihrerseits, dass du etwas mit Her...", sie stockt, als sie meinen gequälten Gesichtsausdruck sieht. „...damit zu tun hast. Sie ist wohl weinend und nach dir schreiend durchs Schloss gelaufen. Nur wenige Minuten vorher sagtest du zu Kingsley, du hättest noch etwas zu erledigen. Dass du vor Ort warst, als sie gefunden wurde, macht die ganze Sache nicht besser." Ihr Blick senkt sich auf die kahle Tischplatte, ehe sie weiterspricht.
„Du wärst sofort nach Askaban gekommen, Severus. Du weißt, wie sie mit Verdächtigen seit dem Krieg umgehen. Filius tat das einzig Richtige, als er vom Verdacht der Auroren erfuhr." Sie macht eine kurze Pause und atmet tief durch.
„Nachdem er dich weggebracht hat, kamen die Auroren angestürmt. Sie suchten nach dir und nahmen ihren Körper mit. Ich bin sofort aufgesprungen und in deine Gemächer gegangen, um das Nötigste einzupacken. Gerade, als ich ihre Sachen gegriffen und in die Tasche gesteckt hatte, flog die Tür auf und Auroren durchsuchten alles. Ich konnte die Tasche gerade so noch verkleinern und in meiner Robe verstecken. Sie haben das ganze Schloss nach dir durchsucht, alle Anwesenden befragt. Und alle, die etwas dazu zu sagen hatten, sagten das Gleiche. Du bist wütend durch das Schloss gestürmt, mit einem Blick in den Augen, der umbringen könnte. Und sie ist nur kurz nach dir weinend durchs Schloss gerannt und hat dich gesucht. Alle gehen davon aus, dass ihr euch gestritten habt und dieser Streit eskaliert ist. Keiner unterstellt dir Absicht, aber sie sind sich sicher, dass du das Feuer gelegt hast. Das erklärt dann auch, weshalb du um sie getrauert hast. Sie denken du bereust deine Tat", führt sie leise aus. Mit jedem Wort, das sie sagte, schlug mein Herz langsamer. Ich bin nun ein gesuchter Mörder. Der angebliche Mörder der Frau, die ich liebe.
„Severus, ich habe versucht mit ihnen zu reden. Wir alle haben für dich gebürgt und ausgesagt, doch du weißt, wie sie mit verdächtigen Mördern verfahren. Es bringt nichts, solange sie nicht von deiner Unschuld überzeugt sind. Kingsley ist im Zwiespalt. Er würde dir gerne glauben, aber deine Worte zu ihm, haben bei ihm die Alarmglocken ausgelöst. Solange wir keine Beweise haben, dürfen wir nicht zulassen, dass sie dich fassen. Du würdest die Gerichtsverhandlung verlieren."
„Ich war es nicht", flüstere ich mit Tränen in den Augen, ehe ich meine Stimme wieder Erwarten festige. „Ich könnte ihr das niemals antun!" Meine Atmung geht schneller und selbst mein Herz schlägt eine Nuance rasanter. „Ich würde ihr das niemals antun." Meine Stimme ist nur ein Hauch, der durch durch die Luft schwebt.
„Ich weiß das, Severus", sagt Minerva sanft, ehe sie sich leise räuspert und in ihre Robe greift. „Potter wollte, dass ich dir das gebe." Sie schiebt langsam einen Brief über den Tisch und lässt ihn vor meinem unangerührten Frühstück liegen. „Ich muss wieder gehen. Hogwarts braucht mich nach diesem schrecklichen Ereignis. Du hast deinen Zauberstab zurück, du weißt, wie du mich erreichen kannst."
Mit diesen Worten erhebt sie sich, läuft an mir vorbei, klopft mir sachte auf die Schulter und lässt mich allein zurück.
Stumm starre ich auf den Brief, der sich in die Platte zu brennen scheint. Erschöpft schließe ich meine Augen, atme durch, öffne sie wieder und nehme den Brief, ehe ich aufstehe und zum Bett gehe.
Langsam lasse ich mich darauf nieder, den Brief fest in meiner Hand umklammert und schaue in die Tasche. Meine freie Hand streckt sich aus, greift nach dem Schal und fährt ehrfürchtig darüber. So sanft, aus Angst er könne verschwinden, wenn ich ihn berühre. Aus Angst ihre letzten Überbleibsel könnten für immer verschwinden.
Stumme Tränen rinnen meine Wange entlang, als ich ihn greife und an Nase führe. Ihr Duft – Lavendel und Orangen – hängt darin. Ich schließe meine Augen, lasse ihn für einen Moment auf mich wirken.
Braune Locken, ein breites Lächeln und braune Augen, die einen Ausdruck haben, der nur für mich bestimmt war – voll von Liebe und Zuneigung – tanzen vor meinen geschlossenen Lidern auf und ab.
Als ich meine Augen öffne, kann ich nicht sehen. Die Tränen verschleiern meinen Blick derart, dass ich erst mit meinem Handrücken unwirsch über meine Augen wischen muss, um halbwegs sehen zu können.
Vorsichtig bette ich den Schal neben mir, ihn immer im Blick, und öffne mit einem Finger den Brief. Ich ziehe ihn heraus, falte ihn auseinander und beginne zu lesen.

Severus, wir alle wissen, dass du nichts damit zu tun hast.
Ich habe versucht mich zu beruhigen und bin am nächsten Tag ins Ministerium appariert, um mit Kingsley zu reden. Vernunft von ihm zu verlangen, doch so sehr er dich auch schätzt, er kann keine Ausnahme machen.
Und deshalb suche ich nach Beweisen. Nach Beweisen, die dich entlasten. Damit du zu uns zurückkehren kannst. Wir alle brauchen einander... Mehr als je zuvor.
Trotzdem wollte ich dir den Termin für die Beerdigung mitteilen. Ich weiß, dass sie gewollt hätte, dass du wenigstens Bescheid weißt.
So sehr es auch schmerzt, aber bitte – BITTE! – komm nicht vorbei. Sie würden dich fassen und darauf bin ich noch nicht vorbereitet. Gib mir bitte Zeit, bis ich entlastende Beweise gefunden habe.
Wir alle sind in Gedanken bei dir.
Es tut mir so leid...

Harry

Ein weiterer Zettel fällt heraus, als ich den Umschlag sinken lassen. Darauf prangt in schwarzer Tinte 30. Januar 2003.
Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen und erneut an diesem Tag übermannt mich die Trauer.
Alles wird gut, Severus", versucht ihre warme, sanfte Stimme mich zu beruhigen. Die Wunde auf meiner Brust pulsiert bei ihrem Klang.
„Du bist weg. Nichts wird je wieder gut!", schreie ich verzweifelt und werfe den Brief auf den Boden, ehe ich mich mit ihrem Schal an meiner Nase hinlege und leise für mich trauere.

Komm, uns bleibt die Ewigkeit Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt