7. Kapitel

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Kierra wusste genau, dass Tjelvar sie gewinnen lassen hatte.
Der verdammte Wikinger hatte sich dieses Mal kaum angestrengt und sich besiegen lassen. Sie schnaubte wütend. Was hatte er damit bezweckt? Sie wusste genau, was er eigentlich konnte, doch er hatte sich zurück gehalten und sich zum Schluss sogar von ihr umschmeißen lassen. Dabei hatte er gegrinst. Sie hatte es genau gesehen.
Kaum war er am Boden hatte sie ihm die Schwertspitze an den Hals gehoben. Er hätte das Schwert mit Leichtigkeit abwehren können, hatte es aber nicht getan. Sie wusste, dass er sie nicht beleidigen wollte. Viel mehr schien es so, als ob er ihren Ruf wahren wollte. Vor Cormac! Als ob der nicht gewusst hätte, dass sie eigentlich kaum Chancen gegen Tjelvar hatte.
Sie wollte wissen, warum er das getan hatte. Und zwar gleich.
Sie stürmte in die Burg.
„Wo ist er?", schnauzte sie den ersten Wikinger an, der ihr begegnete.
Der starrte sie verwirrt an.
„Wer?"
Kierra schnaubte laut.
„Dein Anführer. Wer sonst?"
Einen Moment sah er noch etwas verwirrter aus. Doch dann lächelte er.
„Ah, Tjelvar. Er ist mit dem anderen Iren zum Strand gegangen."
Kierra nickte ihm nur zu und ging wieder aus der Burg. Wahrscheinlich war er bei seinem Boot. Gut so! Es wäre ihr lieber, wenn die Wikinger so schnell wie möglich verschwinden würden. Na ja, nicht alle, aber Tjelvar. Er reizte sie bis aufs Blut. Sie musste zwar zugeben, dass er einigen Fortschritt zu ihnen gebracht hatte, aber trotzdem geriet gerade sie mit ihm immer in Streit. Dabei war es nicht einmal er, der es provozierte. Sie musste zugeben, dass sie es war.
Sie erklomm den Hügel und stampfte durch den Sand.
Am Boot war niemand, aber sie konnte das Kreischen von Kindern hören. Was war da los? Waren die Kinder etwa unerlaubt ins Wasser gegangen?
Sie stürmte los.
Die Kinder wussten genau, dass es gefährlich war, wenn sie alleine ins Meer gingen. Wenn eine Strömung sie erfasste, würden sie gnadenlos in die Tiefe gezogen werden. Deswegen hatte man es ihnen verboten.
Mitten in ihrem Lauf stoppte sie.
Die Kinder waren im Wasser, aber das war nicht das Problem. Cormac, Oran und Tjelvar waren auch dabei und spielten mit den Kindern.
Was sie aber so schnell anhalten ließ, war der Wikinger!
Er hatte sich bis auf die Bruche ausgezogen. Sie hatte ihn schon mit freiem Oberkörper gesehen, aber was sie jetzt sah, ließ ihr den Atem stocken. Der ganze Körper war einfach perfekt. Sie wusste ja, dass er nicht so muskelbepackt wie die anderen war, aber es würde ihm auch gar nicht stehen. Dennoch hatte er in der letzten Zeit an Muskelmasse zugelegt.
Man sah seine Muskeln, besonders, als er ihre Schwester Myrna in die Höhe hob und ins Wasser schmiss. Seine Brust war nicht sonderlich behaart, was man bei seiner Haarfarbe kaum glauben konnte. Dennoch konnte man die feinen Härchen erkennen, die sich zur Bruche hin zu einer Linie verengten.
Sie schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Nie hätte sie gedacht, dass ein Mann sie mal so beschäftigen würde und sie ihn unentwegt anstarren würde. Aber der Wikinger schaffte es.
Langsam kam sie näher.
Cormac, der manche Frauen bestimmt auch zum Schwärmen brachte, nahm sie gar nicht wahr. Auch die Kinder waren vergessen.
Sie sah nur Tjelvar an. Auf die kräftigen Oberschenkel und die wohlgeformten Waden.
Benommen schüttelte sie den Kopf.
Verflucht!
Ihr war ganz entfallen, warum sie hier war.
Es war wegen dem Wikinger und irgendwo im hintersten Teil ihres Gehirns ahnte sie, dass sie sehr wütend auf ihn gewesen war. Aber warum?
„Kierra? Warum starrst du so auf das Meer und die Kinder?"
Adeen war neben sie getreten, ohne das Kierra es bemerkt hatte. Hinter ihnen stand der andere Wikinger. Runar. Ja, Runar hieß der. Er war Adeen offenbar gefolgt, hielt aber einen gebührenden Abstand zu ihr.
„Ich starre nicht!" Sie räusperte sich. „Ich wollte nur schauen, ob die Kinder unbeaufsichtigt ins Meer sind!"
Wieder räusperte sie sich. Hitze stieg in ihr auf und sie merkte, dass sich ihre Wangen röteten. Bei allen Göttern, sie fühlte sich wie ein kleines Kind, das bei etwas Verbotenem erwischt worden war.
Adeen hob eine Augenbraue. Sie wirkte sehr skeptisch.
Runar grinste Kierra wissend an, sagte aber nichts.
Adeen legte ihren Kopf schief.
„Es hat eher so ausgesehen, als ob du Tjelvar angestarrt hättest. Hattet ihr schon wieder Streit?"
Kierra räusperte sich erneut.
„Nein! Ich denke nicht. Es ist nur so...Tjelvar...mh...keine Ahnung. Ach, lasst mir meine Ruhe!"
Sie drehte sich um und stürmte davon.
Verdammt! Was war denn nur los mit ihr?
Noch nie hatte sie ihre Schwester so angeschnauzt. Dabei hatte Adeen ihr nur eine Frage gestellt. Doch das und das Grinsen von Runar und die Tatsache, dass sie wirklich beim Anstarren erwischt worden war, hatte sie aus der Haut fahren lassen. Auch dieses wissende Grinsen hatte sie auf die Palme gebracht. Es schien fast so, als Runar ahnte, wie es in ihr aussah!
Außerdem war es ihr peinlich, dass sie rot im Gesicht geworden war. Selbst jetzt spürte sie noch, dass ihre Wangen brannten.
Sie musste sich unbedingt beruhigen.
Statt in die Burg zu gehen, lief sie in die Ställe und schnappte sich ihr Pferd. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken. Da ihr eigentlicher Platz zum Nachdenken der Strand war und sie offenbar keinen klaren Gedanken fassen konnte, wenn Tjelvar in der Nähe war, ritt sie in den Wald.
Sie gab ihrem Pferd die Sporen und trieb es im halsbrecherischen Tempo zwischen die Bäume hindurch. Erst als sie an einer kleinen Lichtung angekommen war, zügelte sie das Pferd und stieg ab.
Tief atmete sie ein.
Ihre Gedanken wirbelten im Kopf nur so umher.
Unschlüssig setzte sie sich auf einen Felsen und schlug ihre Hände vor dem Gesicht zusammen.
Sie hatte noch genau die Prophezeiung im Kopf. Verdammt, warum gerade jetzt?
Wie war das noch gleich? Sie sollte sich entscheiden, dann würde ihrer Familie Wohlstand und Glück sicher sein.
Das war doch schon der Fall!
Ihr Vater war wieder so gesund und stark, wie früher. Clodagh war, Dank Tjelvars Hilfe, auf dem besten Weg ein exzellenter Heiler zu werden. Aodh und Mael waren sehr viel ruhiger geworden und hatten einiges von der Routine der Wikinger übernommen. Gerade Aodh würde einen sehr guten Anführer abgeben, wenn ihr Vater einmal nicht mehr war.
Bedeutete das also, dass sie sich schon entschieden hatte? Aber es war nichts geschehen! Sie lebte immer noch und durfte diese Wandlung in ihrem Clan miterleben. Oder bedeutete es, dass sie bald sterben würde?
„Warum geht es bei dir immer nur um den Tod? Ich habe nie gesagt, dass du sterben wirst!"
Kierra fuhr erschrocken herum.
Moira saß hinter ihr und kaute an einem Grashalm. Kierra hätte schwören können, dass die Seherin vorher noch nicht hier gesessen hatte.
„Moira? Was machst du hier?"
Die Seherin kicherte leise, dann klopfte sie auf den freien Platz neben sich. Kierra verließ ihren Platz, um sich neben die Seherin zu setzen. Sie erwartete beinahe, dass Moira ihr nun die Leviten lesen würde. Oder sie würde ihr wieder solche geheimnisvolle Prophezeiung geben.
Doch Moira schwieg.
Eine ganze Weile!
Kierra rutsche unruhig auf dem Felsen hin und her.
„Willst du mir nicht einen Rat geben?"
Moira sah sie lächelnd an.
„Was willst du von mir hören? Ich habe dir doch schon etwas gesagt!"
Kierra schnaubte.
„Du hast mich nur gefragt, ob es bei mir immer um den Tod gehen muss! Dass ist kein Rat."
Moira kicherte erneut.
„Mädchen! Es war ein Rat! Du sollst nicht immer alles so wörtlich nehmen. Ich habe nie gesagt, dass du sterben wirst."
Sie seufzte leise, stand auf und streckte ihren Rücken durch. Es knirschte etwas, was die Seherin mit einem Schnalzen der Zunge quittierte.
„Ich bin alt, Kierra. Aber ich war ein Kind, als ich die Gabe der Götter geschenkt bekommen habe. Manchmal empfinde ich es auch als ein Fluch. Doch bei dir ist er nun eher ein Segen."
Sie lief einige Schritte in die Mitte der Lichtung.
„Auch wenn ich nicht bei euch war, habe ich euch Kinder beobachtet. Es läuft alles so, wie ich es gesehen habe, auch wenn es bei dir manchmal auf Messers Schneide war. Aber du hast dich instinktiv richtig entschieden. Der dunkle Wikinger...er gefällt dir?"
Kierra war verblüfft über diesen Themenwechsel.
„Ob mir Tjelvar gefällt? Das kann ich nicht sagen. Er ist ein arroganter Wikinger! Aber er hat meinen Vater geholfen. Dafür werde ich ihm immer dankbar sein! Aber er hat auch etwas an sich, dass mich zur Weißglut reizt. Er provoziert immer das Schlechte in mir hervor. Er ist nicht so, wie ich mir einen starken Mann vorstelle. Er ist ein Gelehrter und damit kann ich nichts anfangen."
Moira schnalzte wieder mit der Zunge.
„Ist es nicht eher so, dass du das Schlechte in ihm sehen willst und nicht die guten Seiten, die er hat? Er ist arrogant, aber das sind alle großen Krieger. Er ist ein Gelehrter, aber er weiß zu kämpfen. Aber er hat auch menschliche Seiten. Er wird für die beiden Brüder einmal von großer Wichtigkeit sein. Besonders für Oran!"
Kierra starrte die Seherin an.
„Ist der Junge in Gefahr?"
Moiras Ausdruck wurde ernst.
„Im Moment noch nicht. Aber er ist eben das, was du sagst. Ein Junge im Körper eines Mannes. Das verstehen viele Menschen nicht. Sie sind kleingläubig und schenken ihr Vertrauen oft den falschen Leuten. Du bist auf einem guten Weg. Aber hüte dich davor, den Wikinger zu verjagen. Dann wird es Unschuldige treffen und die schlechte Prophezeiung wird eintreffen."
Kierra stand auf.
Dann ging es im Prinzip also nicht um sie, sondern um Oran?
Er würde sterben, wenn sie sich falsch entschied?
Das wollte sie nicht.
Auch wenn sie ab und zu grob zu ihm war, mochte sie ihn doch. Er konnte nichts dafür, dass er nicht so war wie andere Männer.
„Ich werde mich zusammen reißen und mit Tjelvar reden, wenn es soweit sein sollte."
Moira nickte und tätschelte leicht ihre Wange.
„So ist es richtig!"


Adeen sah ihrer Schwester verwundert hinterher.
Was hatte sie getan, dass sie so von ihrer Schwester ausgeschimpft wurde?
Sie spürte, dass ihr wieder Tränen in die Augen stiegen. Sie kniff sie fest zusammen, damit es Runar nicht bemerkte.
Doch dann spürte sie seine große Hand auf ihrer Schulter.
„Sie wollte euch nicht verletzen, Herrin! Sie wurde nur erwischt und es ist ihr peinlich!"
Adeen sah zu ihm hoch.
„Nenne mich nicht so!", flüsterte sie. „Ich bin keine Herrin!"
Er zuckte mit den Schultern.
„Für mich schon. Ihr steht im Rang über mir!"
Wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen. Kapierte der dumme Kerl gar nichts? Sie wollte nicht über ihm stehen!
„Ich bin die zweite Tochter von zehn Kindern! Ich habe meiner Mutter zur Hand zu gehen, bis mein Vater sich entschließt, dass ich heiraten soll. Und auch dann habe ich kein Entscheidungsrecht. Ich habe den Mann zu heiraten, der für mich bestimmt wird. Und dann werde ich wohl in eine Burg gesperrt, habe die Männer zu bedienen und Kinder zu bekommen. Hört sich das nach einer Herrin an? Ich sage dir was, Runar. Du bist mehr Herr, als ich es je sein werde! Ich weiß, du bist ein Mann und hast mehr Freiheiten, als ich es je haben werde. Aber ich beneide dich! Ich beneide alle Wikinger, denn bei euch geht es anders zu als bei uns. Die Frauen...sie werden nicht behandelt, als ob sie nicht alleine auf den Beinen stehen könnten! Und ich hasse es, wenn du mich immer wieder an das erinnerst, was ich nie wollte. Ich will auch frei sein! Doch das wird wohl nie passieren!"
Ihre Stimme wurde bei jedem Wort lauter.
Er starrte sie eine Weile schweigend an, während sie nach Atem rang. Dieser kleine Ausbruch hatte sie angestrengt, doch es war jetzt nicht so wichtig. Adeen war sich sicher, dass sie ihn beleidigt hatte. Sie hätte ihn nicht anschreien dürfen. Es war nicht seine Schuld, dass sie so ein Schicksal erwartete.
Sie wollte sich schon entschuldigen, als er sich an sie riss und sie stürmisch auf den Mund küsste.
Entsetzt wollte sie sich von ihm lösen, doch als seine Lippen ihre trafen, schloss sie die Augen und legte ihre Arme um seinen Nacken.
„Niemand wird es wagen, dich so zu behandeln, Adeen. Nicht, wenn ich es verhindern kann!", knurrte er zwischen zwei Küssen.
Sie seufzte leise.
„Wie willst du es verhindern?"
Er hob sie hoch und lehnte sich gegen das Boot. Wieder und wieder küsste er sie. Doch die Küsse wurden immer sanfter.
„Komm mit mir! Ich weiß, ich habe kein Recht dich das zu fragen. Doch ich tue es! Ich liebe dich, Adeen! Aber ich bin nur ein einfacher Zimmermann. Es erwartet dich keine Burg, nur eine Hütte. Ich werde auch kein Jarl oder hoher Herr. Ich bin einfach..."
Sie legte ihm einen Finger auf den Mund.
„Du bist nicht einfach nur ein Zimmermann! Du bist für mich bestimmt, Runar!"
Er hob eine Augenbraue.
„Ich bin für dich bestimmt?"
Sie nickte.
„Ich wollte es dir eigentlich nie erzählen, weil du mich bestimmt auslachst. Bevor ihr zu uns kamt, besuchte uns die Seherin. Sie sagte mir, dass unter den Wikingern mein zukünftiger Gatte sein wird. Ich wusste es von Anfang an, dass du es warst!"
Sie neigte leicht den Kopf.
„Du glaubst mir bestimmt nicht!"
Er hob ihr Gesicht an.
„Doch, ich glaube dir. Dann kommst du mit mir mit?"
Sie nickte.
„Oh ja, Runan! Ich werde mit dir gehen! Aber es wird schwer werden. Meine Mutter wird es nicht erlauben!"
Er zuckte mit den Schultern und lächelte sie an.
„Es gibt ja noch die alte Tradition der Entführung!" Er beugte sich zu ihr hinunter. „Ich mag alte Traditionen!"

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