"Hier, ihre Einkäufe. Ihr Psychologe kommt in zwei Stunden.
Wie ist es eigentlich, nie das Haus zu verlassen?"Sie schaute aus dem Fenster. Wie immer. Wie jeden Tag. Doch diesmal war es anders. Diesmal war es das letzte Mal und das wusste sie. Sie wusste es, als sie das laute Geräusch hörte, als sie den verstörten Gesichtsausdruck sah. Von ihm.
Jeden Tag war er der Einzige, den sie sah, abgesehen von ihrem Betreuer und ihrem Psychotherapeuten.
Von klein auf bis jetzt. Gerade 20 war sie, als er das erste Mal zu sehen war. Erschien mit seinem Vater. Er lag im Kinderwagen, sein Vater schob.
Es war ein schöner Tag. Sonnig und warm. Einer dieser Tage an dem jeder Windzug erleichternd ist.
Immer kam er vorbei. Im Kinderwagen. Tag ein Tag aus. Bis er selber laufen konnte. Und wie er lief. Stundenlang spielte er fangen und verstecken mit seinen Freunden. Doch es waren nicht viele. Waren es nie. Bis heute nicht.
Dann begann die Schulzeit und wieder ging er am Fenster entlang, wurde beobachtet.
Mit der Zeit begann sie Freude zu empfinden. Immer wenn sie ihn sah, schlug ihr Herz höher. Ja. Sie liebte ihn. Liebte ihn wie einen Sohn. Fühlte sich wie eine Mutter, die ihr Kind aufwachsen sah.
Um so trauriger wurde sie heute. Sie wusste es. Wusste, dass er gehen würde. Sie verlassen. Der einzige Mensch, den sie liebte. Der einzige Mensch, der ohne etwas davon zu wissen, einen Platz in ihrem Herzen hatte.
Sie fragte sich, ob er sie kannte. Ob er sie vielleicht auch beobachtete.
Doch dem war nicht so. Er hatte nie einen Blick in das Fenster geworfen.
Langsam Schritt für Schritt, ging er. Doch er stoppte. Er stoppte genau in der Mitte ihres Blickfeldes. Den Koffer in seiner Hand. Schwer und groß. Der Blick voller Nostalgie. Der Blick beider Personen.
Ihre Augen wurden glasig. Ihre Sicht verschwommen. Eine Träne kullerte ihre Wange hinunter.Stille. Die Zeit war wie erstarrt und diese Sekunde fühlte sich an, wie ein Jahr. Selbst die Träne war wie eingefroren.
Da geschah es.Als sie ihre Augen schloss ertönte ein Knall. So laut, dass ihre Ohren zu zerspringen drohten.
Er fiel auf die Knie. Dann auf den Boden. Sein weißes Hemd färbte sich dunkekrot.Die Frau schloss die Vorhänge. Schloss die Augen. Hörte Sirenen. Hörte Schreie. Hörte ein Klingeln. Ein Klingeln?
Sie öffnete die Tür."Hier, ihre Einkäufe. Ihr Psychologe kommt in zwei Stunden. Wie ist es eigentlich so, nie das Haus zu verlassen?"
Sie setzte sich und starrte das zugezogene Fenster an.
"Haben Sie von dem Unfall gehört?"
Sie blieb erstarrt.
"Gerade eben hat sich dort unten ein Mann erschossen. Ein Koffer voller Geld."
Sie blieb erstarrt.
"Warum sagen sie denn nichts?"
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Mutter ohne Sohn
Short Story"Hier. Ihre Einkäufe. Ihr Psychologe kommt in zwei Stunden. Wie ist es eigentlich so, nie das Haus zu verlassen?"