Kapitel 49

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Es war spät geworden und Vera verabschiedete sich von Allen. Sie wollte allein sein und hatte sich selbst von Aaron verabschiedet, was soviel bedeutet hatte wie: Heute nicht, ich will niemanden sehen.
   Sie setzte sich auf ihr Bett und legte ihr Gesicht in die Hände. Eigentlich hätte Vera glücklich sein sollen. Sie hatte ihr Schwester wieder und eine nahezu perfekte Beziehung. Es gab keine Drohnachrichten und auch keine Angriffe. Doch Vera war nicht glücklich. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte, dass irgendwas gewaltig schief lief.
   Müde ließ sie sich nach hinten fallen, vergrub sich unter der Bettdecke und schlief ein.

Vera stand in einem hell erleuchteten Raum, es war so hell, dass Vera nichts sehen konnte.
   Plötzlich ertönte eine, ihr bekannte Stimme. ''Ihr werdet sie nie bekommen!'' Verzweifelt sah sie sich um und erkannte Kevin, er lag zusammengekauert auf dem Boden. Seine Flügel waren blutverschmiert und auf seinem ganzen Körper waren frische Schnitte. Eine Frau beugte sich über ihn, ''bist du dir da sicher? Deine kleine Freundin, wird dich und die Anderen suchen und euch finden.''
   Die Frau richtete sich auf und lief auf Vera zu. Instinktiv ging sie einen Schritt nach hinten, doch die Frau lief durch sie hindurch. Das feuerrote Haar und diese eigenartigen Augen, erkannte Vera sofort. Baalissa, die Älteste. Vera lief neben ihr her und versuchte jedes Detail aufzusaugen.
   Abrupt blieb Baalissa stehen. Vera wäre fast gestolpert und sah zu Boden. Dort lagen Lea und Luise, beide hatten neue und alte Wunden, aus denen Blut sickerte.
   Angst packte Vera und ließ sie erstarren. Was ist das Alles? Und wo war sie?!
   Sie sah sich um. Es sah aus wie in einer Kirche, aber irgendwas sagte ihr, dass es keine war, denn schließlich waren Lea und Luise hier. Eine entweihte Kirche, schoss es Vera durch den Kopf.
   ''Wir haben sie gefunden'' verkündete eine Stimme und sie drehte sich zu der Person, die gesprochen hatte, um. Jannik stand vor ihr. Derselbe Jannik, der mit ihr an einem Tisch gesessen und Limonade getrunken hatte. Verräter, dachte Vera. Doch sie spürte, dass Jannik nicht freiwillig hier war.
   Im Raum herrschte Stille. Vera sah sich erneut um und ihre Augen fanden Kevin. Besorgt rannte sie zu ihm, doch gerade als sie ankam, beugte Aaron sich über ihn. Aaron biss sich ins Handgelenk und gab Kevin sein Blut.
   ''Wir müssen sie töten'' hauchte Kevin, der langsam zu heilen begann.
Abrupt wurde sie aus dem Raum gerissen und saß auf einem Baum. Irgendwo miaute eine Katze und ein Hund bellte. Sie sah sich um und ihr wurde schwindelig...
  
Schweißgebadet schreckte Vera auf und wäre fast gegen Lea geknallt, die sich über sie gebeugt hatte. Heiße und kalte Schauer überkamen Vera und sie sah sich um.
   Sie war in ihrem Zimmer, Lea ging es gut und den Anderen auch. Nur ein Traum, versuchte Vera sich zu beruhigen, doch sie wusste, dass das kein Traum war. Es war die Zukunft. Ihr Herz pochte ihr heftig gegen die Brust und die Angst, um ihre Freunde, wurde größer.
   ''Du hast..'' begann Lea, unterbrach sich allerdings. Vera zitterte am ganzen Körper und rieb sich die pochenden Schläfen. Unter Schmerzen versuchte sie sich an ihren Traum zu erinnern, doch nur Fetzen tauchten auf.
   Pia stand an ihrem Bett und fächerte sich Luft zu, als bräuchte sie unbedingt eine Abkühlung. Sie sah geschockt aus, als hätte sie alles mit angesehen.
   ''Was hast du geträumt?'' wisperte Pia. ''Ich weiß nicht genau, es war...es war zu grausam'' flüsterte Vera und rieb sich wieder die Schläfen.
   Nervös stand Lea auf und lief durch den Raum. ''Ich hab alles gesehen'' murmelte sie vor sich hin. ''Es kommt alles von ihr... sie wird nicht aufgeben'' murmelte Lea weiter. ''Wer?'' fragte Pia, die sich setzte und unruhig wippte.
   Plötzlich pochte jemand gegen die Tür. ''Macht die Tür auf!'' befahl Kevin und das Klopfen wurde heftiger. ''Zwingt uns nicht die Tür einzutreten'' sagte Aaron.
   Pia und Lea machten keine Anstalten, die Tür zu öffnen. ''Vera, wie lange hast du diese Träume schon?'' fragte Pia drängend. Irritiert sah Vera zu ihr. ''Du weißt schon'' deutete Pia an, aber Vera wusste absolut nicht was sie von ihr wollte. 
   Plötzlich kam der Traum mit aller Wucht zurück und Vera keuchte auf. ''Kevin'' hauchte sie.
   ''Ich bin hier'' sagte er hinter der Tür.
Bilder von Lea und Luise, die verletzt auf dem Boden lagen kehrten zurück. ''Aaron'' hauchte Vera und spürte, wie Tränen über ihre Wangen rannen.
   Mit einem heftigen Knall zerbarst die Tür und die Jungs traten herein. Einer bleicher als der Andere.
   Von Emotionen gesteuert, sprang Vera auf und schmiss sich Kevin in die Arme. ''Du lebst, dir geht es gut!'' schluchzte sie und drückte ihn fest an sich. Vollkommen überrumpelt legte er ihr die Arme um den Körper.
   ''Ja, wieso sollte es mir schlecht gehen?'' fragte er irritiert. Langsam löste sie sich von ihm und starrte ihm ins Gesicht, als würde sie ihn, das erste Mal sehen.
   ''Du warst..'' schluchzte sie wieder. Behutsam betastete sie seine Arme, sein Gesicht, seinen Brustkorb – nirgends waren Wunden. Fürsorglich strich er ihr über die Wange. ''Was ist los?'' fragte er besorgt. ''Es war nur ein Traum'' flüsterte sie und umarmte ihn noch einmal.
   ''Ja, es war nur ein gewöhnlicher Traum'' sagte Lea, doch niemand glaubte ihr. ''Lüg uns nicht an'' sagte Aaron wütend. ''Vera würde niemandem einfach so, um den Hals fallen, wenn es nichts Schlimmes gewesen wäre'' meine Aaron.
   ''Ich habe etwas ausprobiert, deshalb ist sie so durch den Wind'' erklärte Lea, doch wieder glaubten die Jungs kein Wort.
   ''Jungs! Was habt ihr getan?!'' rief Luise geschockt. ''Raus hier. Und ihr besorgt eine neue Tür!'' befahl Luise und bugsierte sie hinaus.
   ''Hier können wir nicht reden'' sagte Luise, die am Fenster lehnte. ''Es ist nicht richtig, den Jungs kein Wort zu sagen'' meinte Pia, doch niemand beachtete sie.
   Ohne auf Vera zu achten, schulterte Luise sie und sprang aus dem Fenster. Vera konnte nur schwer einen Aufschrei unterdrücken. Luise rannte los, als sie den Boden berührt hatte.
   Nach circa 5 Minuten stoppte sie. Vera rutscht hinunter und sah sich um. Sie standen auf einem Berg und wie aus dem Nichts tauchte Lea vor ihr auf. Pia landete direkt hinter ihr. Völlig verwirrt sah sie ihre Freundinnen an. Was ist hier los?!!
   ''Das habe ich bei Vera gefunden'' sagte Pia und holte Zettel aus der Jackentasche.  ''Du warst bei mir zuhause?'' fragte Vera geschockt. Pia nickte und reichte die Zettel herum. Vera erkannte die Zeichnungen, denn sie selbst hatte sie gemalt. Nur schwach konnte sie sich daran erinnern. Sie erkannte Baalissa auf jeder einzelnen Zeichnung, aber was das zu bedeuten hatte, wusste Vera nicht.
   ''Du hast damals die Älteste gemalt, du warst damals bei dutzenden Psychologen, weil du zu viel Fantasie hattest. Aber Vera, dass ist keine Fantasie, du hast Visionen'' sagte Pia und nahm die Zeichnungen wieder an sich. ''Ich weiß, dass ich bei Psychologen war, aber das war, weil ich Probleme mit der Wirklichkeit hatte'' überlegte Vera. ''Was willst du damit sagen? Visionen?'' fragte Luise an Pia gewandt. ''Ich hab mir die ganze Zeit den Kopf zerbrochen, warum Vera den Fluch überwunden hat und warum sie so eine große Gefahr darstellt. Jetzt habe ich vielleicht die Lösung aller Probleme'' behauptete Pia aufgeregt. ''Und die wäre?'' hakte Luise nach. ''Sie hat diese Visionen, die jedem gefährlich werden können. Sie kann Pläne ruinieren, Hindernisse überwinden und all das könnte der Grund sein, warum die Roten Vera jagen'' sagte Pia und lief unruhig hin und her.
   Nur wegen Träume?
''Vera versteh doch. Das sind keine Träume'' sagte Lea, die ihre Gedanken belauscht hatte. ''Ihr wisst doch, dass sie ein normaler Mensch ist und normale Menschen haben keinen Sinn für Übernatürliches'' behauptete Luise. ''Ich habe sie seit ihrer Geburt beobachtet, meint ihr nicht, ich hätte etwas bemerkt?'' fragte Luise nervös.
   Verwirrt sah Vera zwischen ihren Freundinnen hin und her. Ich verstehe kein Wort... bedauerte Vera leise.
   ''Vera kommt nicht mit'' warf Lea ein und plötzlich starrten sie alle an.
''Vera...Du hast seit deinem ersten Lebensjahr Träume von Baalissa und Anderen, stimmts?'' fragte Pia, zustimmend nickte Vera. ''Diese Träume sind Visionen. Sie zeigen dir die Zukunft, oder das was in der Gegenwart passiert. Manche Visionen sind verschlüsselt, sodass du sie nicht verstehst'' erklärte sie und Vera nickte wieder. ''Deine Visionen, sind wahrscheinlich der Grund für diese ganzen Probleme'' beendete Lea. Endlich hatte Vera verstanden. Sie war der Grund für alles – WIE IMMER.
   ''Und was heißt das?'' fragte Vera. ''Ich weiß nicht. Eins weiß ich aber gewiss, du bist kein normaler Mensch'' sagte Lea. ''Ich habe deinen Traum miterlebt und ich kann dir mit Sicherheit sagen, dass das die Zukunft war.'' Du warst in meinem Kopf? Wie konntest du nur? Dachte Vera und richtete ihre Gedanken gezielt auf Lea. Entschuldigend lächelte diese.
   Wenn das wirklich die Zukunft war, dann... Sie traute sich nicht den Gedanken fortzusetzten. Vera wurde schwindelig und eine leichte Übelkeit stieg in ihr auf.
   ''Wie kann ich es ändern?'' platzte es aus Vera heraus. ''Wir müssen die Zukunft ändern!'' schrie sie hysterisch. Bedauernd schüttelte Pia den Kopf. ''Das geht nur, wenn du andere Wege einschlägst und ich glaube nicht, dass du das schaffst. Dafür ist Aaron dir zu wichtig und auch Luise könntest du nie zurücklassen'' murmelte Pia.
   ''Du müsstest dein Leben, mal wieder, auf den Kopf stellen'' sagte Lea. Ein Gedanke nahm in ihrem Kopf Gestalt an. Was wäre, wenn ich mich von allem und jeden abschirmen kann? Lea war ihren Gedanken gefolgt und nickte leicht. Kannst du es mir beibringen? Fragte Vera im Stillen und Lea nickte wieder.
   ''Wenn ich mich abschirmen könnte, würde man mich nicht finden und niemand könnte meine Wege kennen oder erahnen, oder?'' fragte Vera unsicher. ''Ja, aber dann könnten wir dich auch nicht mehr finden'' bemerkte Luise. ''Das ist egal. Wenn mich niemand findet, dann braucht sich niemand Sorgen machen'' entgegnete Vera. ''Schlau'' murmelte Pia.
   ''Wann fangen wir mit dem Unterricht an?'' fragte Vera aufgeregt. ''Da gibt es ein Problem...'' überlegte Lea. ''Ich und Kevin müssen es dir beibringen, was bedeutet, dass es kein Geheimnis sein wird. Und sie werden nicht begeistert sein.'' Das ist mir egal! Es wurde still.
   Pia unterbrach die Stille mit einem Pfiff.
   Ein roter Blitz jagte durch den Wald und ein blauer fiel vom Himmel. Plötzlich standen Kevin und Aaron vor ihr.
   ''Was ist hier los?'' fragte Aaron angespannt. Lea beachtete ihn gar nicht und wand sich an Kevin. ''Wir müssen Vera helfen.'' In Kevins Blick, breitete sich Schock und Angst aus. ''Nein'' hauchte er. ''Versteh doch, sie muss sich abschirmen können'' beharrte Lea.
   ''NEIN!'' herrschte Aaron Lea an. ''Du wirst sie nicht verändern!'' Kevin lief zu Vera, hob ihr Kinn an und sah ihr tief in die Augen. ''Das willst du nicht'' flüsterte er und sie trat zurück. ''Mir ist egal, was ihr davon haltet, entweder das, oder wir alle werden sterben'' sagte Vera dramatisch.
   ''Ich würde eher sterben, als dir so etwas anzutun'' sagte Kevin und verschränkte die Arme vor der Brust.
   ''Ihr wisst nicht, wie es ist, ständig diese Träume zu haben und zu wissen, dass jemandem etwas Grausames passiert'' wisperte Vera und spürte, wie ihre Kehle sich  langsam zuschnürte. Sie sah zu Aaron, der starr wie eine Statue vor ihr stand. ''Du weißt nicht, wie es ist'' sagte sie. Aaron sah sie gequält an, schüttelte den Kopf und war im nächsten Moment verschwunden.
   ''Kevin, es muss sein. Nur so sind wir sicher'' sagte Pia und trat auf ihn zu. Liebevoll legte sie ihm ihre Hände an die Wangen, er umfasste ihre Handgelenke und schloss die Augen. Er schien zu überlegen und öffnete ruckartig die Augen. Seine Augen waren trüb und hatten all ihren Glanz verloren.
   ''Ich machs.''

Vom Engel geküsst Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt