f o u r t y f o u r

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Nun, diese Frage war nicht leicht zu beantworten. Die Wahrheit konnte ich nicht sagen. ,,Nun ja, ich habe einfach verstanden, dass es besser, sinnvoller und stressfreier ist, wenn ich auch hier aufs Internat gehe. Meinst du ...meinst du es ist für dich in Ordnung, wenn ich hier zu dir einziehe? Also dauerhaft?"

Scarletts Miene hellte sich erheblich auf und ein offenes lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. ,,Klar!", Sagte sie , ,,Natürlich kannst du hier einziehen! Ich freue mich total! Das war auch die richtige Entscheidung für dich, da bin ich mir sicher. Das war zu viel Stress für sich. Also: Willkommen in deinem neuen zuhause!"

Wir fielen uns in die Arme und unterhielten uns angeregt, während ich meinen Koffer ausräumte und meine Sachen in den Schrank packte, der vorher leer gestanden hatte. Scarlett sah auf ihre seltsam aussehende Armbanduhr und erschrak. ,,Komm, wir müssen los! Unsere erste Stunde beginnt in zehn Minuten und wir haben noch nichts gefrühstückt!"

Ich ließ mich aufs Bett plumpsen währen sie ins Bart hastete, um sich umzuziehen und fertigzumachen. Kaum fünf Minuten später stand sie gehetzt vor mir und meinte: ,,Wir müssen jetzt sofort zum Unterricht, dann gibt's halt ein ausgiebiges Mittagessen. In unserer Mittagspause müssen wir aber noch zum Internatsleiter, deine Prägung muss registriert werden, sonst kommst du nicht durch die Scanner."

Ich hatte gerade fragen wollen, was für Scanner sie meine, als sie auch schon aus der Zimmertür hastete und mich hinter sich herzog. Ich konnte gerade noch die Zimmertür schließen, da sah ich sie auch schon die Treppen hinunterlaufen. Hastig folgte ich ihr, und unten angekommen, war ich ziemlich außer Atem. Wir traten hinaus auf den Hof, durchquerten die relativ leere Essenshalle und machten uns auf den Weg zu den Unterrichtsräumen.

Dass Scarlett und ich beide nicht gefrühstückt hatten und ich zudem sein ein Uhr wach war achte sich im Laufe des Tages bemerkbar. Im Unterricht wollte ich gerade meiner Lehrerin sagen, dass ich nun auch hier auf das Internat ging, da sagte sie : ,,Ich bitte um Ruhe. Wie ihr ja wisst, ist Zoe nur für ungefähr die Hälfte des Unterrichts hier, da sie noch ihren Verpflichtungen in der normalen Welt nachgehen muss. Das hat sich nun geändert, sie besucht nun regulär den Unterricht und lebt im Internat, wie eigentlich alle von euch."

Peinlich berührt sah ich auf meinen Tisch, den alle hatten sich zu mir umgedreht und starrten mich an, bis auf einmal jemand klatschte und laut ,,Gut gemacht!" rief. Jetzt drehten sich alle zu ihm um und er rutschte beschämt auf seinem Stuhl weiter nach unten.

Woher wusste meine Lehrerin das überhaupt? Hatte Chris etwa schon heute früh so schnell alle meine Lehrer informiert? O Gott. Aber eigentlich konnte es mir ja egal sein. Meine oberste Priorität war das Überleben meiner Familie und Freunde. Ich hatte einen Schritt in diese Richtung gemacht, auch wenn es kein leichter Schritt gewesen war.

Wie es ihnen wohl ging? Ich hatte kein Wort mehr zu Rose und Elouise verloren, und jetzt war ich einfach verschwunden. Aber sie würden ja damit klarkommen, sie hatten ja noch sich. Im Gegensatz zu meinem Dad. Er war jetzt alleine, nur ein Hund leistete ihm noch Gesellschaft. Das war traurig. Und ich hatte ihn beleidigt und war einfach so verschwunden, wo doch schon meine Mutter gestorben war. Jetzt hatte er niemanden mehr. Mein schlechtes Gewissen übermannte mich. Was hatte ich denn da nur getan? Ich war abgehauen und hatte sie alleine gelassen, sie alle. Ich war jetzt quasi fein raus, hatte die Verantwortung abgegeben und sie alle einfach sich selbst überlassen. Jetzt war ich weit, weit entfernt und hatte keinerlei Kontrolle darüber, was in London passierte.

Mir wurde übel. Ich hatte doch total den Verstand verloren und war vor den Menschen, die ich liebte, geflohen. Ich hatte die Kontrolle verloren und es war zu einer Übersprunghandlung meinerseits gekommen. Eigentlich hatte ich sie alle nur noch mehr in Gefahr gebracht, waren sie doch jetzt schutzlos Florian ausgeliefert. Und der war ja auch nicht dumm, er würde wissen, dass ich feige die Flucht ergriffen hatte und alle diese Menschen trotzdem noch liebte. Ich konnte jetzt nichts mehr tun, ich hatte schon so ziemlich alles verbockt, was möglich war. Es war gerade mitten im Unterricht, aber mir ging es auf einmal so dreckig, dass ich ruckartig meinen Stuhl zurückschob und aufstand. Die ganze Klasse und meine Lehrerin hatten ihren Blick auf mich gerichtet. ,,Verzeihen sie, Miss Harris. Mir geht es gerade nicht so gut, darf ich kurz rausgehen?"

Verwirrt blickte Miss Harris mich an, eine kleine, blonde Frau mit hohen Absätzen und einer Brille. ,,Ähm... in Ordnung, Bronx, aber seie3n sie bitte in spätestens zwanzig Minuten wieder da." Ich hatte sie total aus der Bahn geworfen und sie hatte den Faden bei dem verloren, dass sie gerade erzählte. Sie fuhr fort, und einer nach dem anderen wandten sich die Blicke meiner Mitschüler wieder ihr zu. Ich verließ den Raum, und kaum war ich im Flur, rannte ich los. Ich musste kurz weg hier, nur für ein paar wenige Minuten. Ich kannte mich hier nicht aus, aber als ich durch irgendeinen seltsamen Flur lief, öffnete ich kurzerhand das Fenster und stieg hinaus. Ich befand mich im Erdgeschoss, und kaum hatte ich festen Boden unter den Füßen, sprang ich auch schon wieder ab und schwang mich in die Luft. Ich flog so hoch wie am gestrigen Abend; sodass ich wieder die gesamte ,,Insel" mitsamt Abgrund überblicken konnte. Was war eigentlich in diesem Abgrund? Keine Ahnung, es spielte aber auch keine Rolle. Wichtig war die Frage, was ich jetzt tun sollte. Ich konnte jetzt nicht mehr zurück, auf jeden Fall nicht dauerhaft, höchstens manchmal heimlich zur Kontrolle. Ich hatte hier jetzt allen gesagt, dass ich hier bleiben würde. Ich konnte nichts tun. So schwer es mir auch fiel, ich musste aufhören, an die Menschen zu denken, die ich liebte, war ich doch ohnehin machtlos. Vielleicht würde Florian auch tatsächlich denken, dass sie mir egal wären oder sowas, und sie verschonen. Aber es war egal was ich tat, ich war unfähig, irgendetwas zu tun. Ich musste jetzt aufhöreen, an sie zu denken. Ich hatte dieses Leben gewählt, und nun musste ich die Konsequenzen meiner Entscheidung tragen, ob ich nun wollte oder nicht.

Die Schattentänzerin | AbgebrochenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt