An einem Mittwoch hatte alles aufgehört. Der Zauber war verweht wie kränkelnde Blüten im Wind. Lijas Zauber. Alles ergab einen Sinn und dieser Sinn katapultierte Luhan mit einem Atemzug raus aus dem eisigen Wasser und rauf auf den Boden der Tatsachen. Der donnernde Aufprall schnürte ihm die Luft ab.
Eine Blumenelfe. Wie hatte Luhan ihr das bloß glauben können? Wo ausgerechnet er doch ganz genau hätte wissen müssen, dass es nicht stimmte. Einfach nicht stimmen konnte. Er stand noch immer in Lijas kleiner Küche und starrte auf die Teereste, die sich im Ausguss verfangen hatten. Luhan konnte es einfach nicht fassen. Ein Kichern unterbrach seine Fassungslosigkeit. Es kam aus dem Wohnzimmer. Wie durch Wasser watete er zu ihr zurück. Das Wasser war nicht mehr eisig, sondern lauwarm. Irgendwie abgeklärt. Lija lag halb auf dem Sofa und kicherte in sich hinein. An Sonntagen hatte sie das nie getan. Vielleicht war sie nüchterner, wenn er zu ihr kam. Er korrigierte sich innerlich: wenn sie wusste, dass er zu ihr kam.
„Ich...", setzte Luhan mit stockender Stimme an. Namenlose Gefühle überschwemmten ihn. Er brach ab. Plötzlich hörte Lija auf zu Kichern. Schneller, als er ihr zugetraut hätte, schwamm sie durch das lauwarme Wasser auf ihn zu. Krallte ihre Hand in sein T-Shirt.
„Geh nicht", murmelte Lija. Luhan seufzte.
„Ich möchte aber." Er löste vorsichtig ihre klebrig kalte Hand aus seinem T-Shirt. Ihre Augen wurden groß. Noch größer. Vor vielen Jahren tröpfelten sich Frauen Tollkirschensaft in die Augen, um die Pupillen zu weiten. Luhan begann zu verstehen, warum.
„Ich warte immer auf dich, weißt du?", erklärte Lija ihm dann leise. „Montag... Dienstag... Mittwoch... alles unnötige Tage. Ich wünschte, es wäre immer Sonntag."
„Sonntag ist vorbei", presste Luhan zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er war sich nicht sicher, ob er jemals wiederkommen würde, der Sonntag.
„Ja ... wahrscheinlich ... aber heute sind wir auch zusammen. Das ist schön. Wo ist der Tee?"
„Weggeschüttet."
„Warum? Du magst ihn doch."
„Nein."
„Wirklich nicht?"
„Nein."
„Aber... Aber ich dachte ... weil wir dann immer zusammen sind. Weil wir dann immer zusammen fliegen." Sie lächelte gequält.
„Ich brauche keinen Tee um zu fliegen", seufzte Luhan. „Und ich dachte, du bräuchtest das auch nicht."
Es hatte keinen Sinn jetzt mit ihr zu diskutieren. Streng genommen hatte es niemals einen Sinn gehabt, weil sie höchstwahrscheinlich bei keinem ihrer Treffen vollkommen nüchtern gewesen war.
Ich fürchte, ich bin etwas seltsam geworden. Das hatte sie gesagt. Und: Sie meinte, sie könnte nicht länger zusehen. Niemand könnte das. Es täte ihr leid. Luhan tat es auch leid. Er war wütend und gleichzeitig auch nicht. Wollte sie in den Arm nehmen und gleichzeitig so weit weg von sich wie möglich halten. Wollte, dass alles hier eine Lüge war und gleichzeitig die ganze Wahrheit wissen. Ihr Märchen hatte eine schlechte Wendung genommen, weil die Realität dazwischengefunkt hatte.
„Ich freue mich auf Sonntag", sagte Lija. Dann kicherte sie wieder. Die kleine Gestalt schüttelte sich vor Kichern, der kurze Bob wippte auf und ab, als sie sich nach vorne beugte. Die Hände auf den Bauch gelegt. „So sehr", jauchzte sie. Luhan biss die Zähne zusammen und wandte sich ab. Er ging, ohne sich noch einmal umzudrehen.
○•○•○•○
Lija fühlte sich wie im Déjà-Vu. Im schon gesehen. Weil sie es wirklich schon einmal erlebt hatte. An einem Samstag vor einiger Zeit, als sie auf ihre Sonne gewartet hatte. Vergeblich. Jetzt hockte der blasse Mond zusammengekauert auf seinem kleinen Sofa. Rieb gedankenversunken über die Wedel der kleinen Palme. Kein Tee stand auf dem runden Tisch. Letzte Woche hatte Lija gereicht. Irgendwie hatte sie es übertrieben. Luhan hatte sich mit einem Mal zu echt angefühlt. Etwas war seltsam und irgendwie ver-rückt, aber Lija weigerte sich, zu begreifen, was wirklich geschehen war. Sie weigerte sich den ganzen Sonntag über. Und die nächste Woche. Den darauffolgenden Sonntag. Erst am Mittwoch danach fing ihr Gehirn an, das ganze Übel zu begreifen. Sie saß wieder vor einem dampfenden Tee. Und trotzdem erschien Luhan ihr nicht mehr. Weder in echt, noch im Geist. Als Lija endlich realisierte, dass ihre Sonne sie am letzten Mittwoch tatsächlich besucht hatte, brach sie zusammen. Sie war nicht länger der Mond. Sie hatte das Recht, ihre Sonne zu sehen, verwirkt. Luhan hatte sie verlassen, wie alle anderen. Sie hatte es verdorben. Ein trockenes Schluchzen durchbrach die dumpfe Stille im Wohnzimmer. Lija legte sich eine Hand aufs Herz. Das Band. Warum hatte sie es nicht vorher bemerkt? Es verschwand. In jedem Moment. Lija röchelte. Schleppte sich durch wabernde Schatten hindurch nach draußen. Sie brauchte Licht, weil ihre ganz persönliche Sonne sich hinter dunklen Wolken versteckte. Wolken, die Lija selbst erschaffen hatte. Dampfwolken, aufgestiegen aus ihrem Tee. Sie schwankte wieder zurück ins Wohnzimmer. Mit einer einzigen Bewegung fegte sie die Tasse vom Tisch. Wasser spritze. Scherben klirrten. Pflanzenreste blieben wie ekelhaft grüner Schleim dazwischen kleben. Sie wischte ihn nicht auf. Verschwendete keinen weiteren Blick an dieses Monster, sondern taumelte wieder ins Licht.
Zur selben Zeit saß Luhan auf dem Boden im Mitarbeiterzimmer, den schmalen Rücken an das schäbige Regal gelehnt. Das mit der Schimmeldecke. Er keuchte auf, weil er es auch spürte. Jemand zog an seinem Herzen. Unsichtbare Hände rissen an den Ranken, rissen sie raus aus ihm und er konnte nichts dagegen tun. Es schmerzte mehr als das Eiswasser oder der Aufprall auf den Boden der Tatsachen. Jemand riss mit roher Gewalt das Märchen aus seinem Herzen und zurück blieb nichts als Dunkelheit und Blut. Etwas fehlte.
Lija lag auf der Wiese, im handhoch grünen Gras und starrte in den Himmel. Sie vermisste eine warme Hand in ihrer. Sie wünschte, sie hätte Luhan noch einmal geküsst. Oder gestanden, dass sie ihn liebte. Um ihm anschließend klar zu machen, was für ein Wrack sie doch eigentlich war. Wann und warum sie im trockenen Sand gestrandet und wieso er ihre Flut gewesen war. Dass ihr die Kälte nichts ausgemacht hätte. Aber die Dämmerphase war vorbei. Auch Lija hatte gespürt, wie jemand die Ranken gewaltsam herausgerissen hatte. Auch Lija hatte die Schmerzen und die Dunkelheit wahrgenommen. Im Gegensatz zu Luhan wusste sie aber, was sie nun tun würde.
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Guten Abend! :)
Nur als kleine Vorwarnung: "Wie Blüten im Wind" neigt sich steil dem Ende entgegegen... Ich denke, mehr als ein oder zwei Kapitel werden nicht mehr drin sein... Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr Lust habt, bis zum bitteren Ende dabeizubleiben ;)
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Wie Blüten Im Wind ○ Luhan ○
Fantasy„Soll ich dir mein Geheimnis verraten?" Lächelnd legte sie einen Finger an die blassen Lippen. Luhan nickte. Ihr Lächeln wurde noch breiter, die Augen funkelten geheimnisvoll, als sie sich verschwörerisch zu ihm herüber beugte. „Ich bin eine Elfe"...