Ich hoffe, du weißt

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Sie sah auf die Stadt hinunter. Dieser Anblick machte sie krank und beruhigte sie zur gleichen Zeit. Ein äußerst verwirrendes Gefühl. Sie hörte ein metallisches Klicken und kurz darauf ein lautes Poltern. Langsam drehte sie ihren Oberkörper in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Sie wusste nicht, wie lange sie dort schon gesessen hatte. Sie erblickte einen Jungen, der gerade Schwierigkeiten dabei hatte, auf das Dach zu klettern. Sie hatte nicht das Bedürfnis, irgendetwas zu sagen. Sie sah ihn an und lenkte dann ihren Blick wieder auf die Stadt vor ihr. Nach einer Weile setzte sich der Junge neben sie. Sie schwiegen sich an und sie hatte schon längst ihr Zeitgefühl verloren.
"Ist, ähm, alles okay bei dir?", fragte der Junge unsicher.
Sie sah ihn nicht an. "Warum sitzt man wohl mutterseelenallein auf einem Krankenhausdach und schweigt?" Ihre Stimme war leise und ein verletzter Unterton schwang in ihr mit. Den Sarkasmus wollte der Junge nicht überhören. Er schüttelte den Kopf und ging nicht auf die Rhetorik ein. "Mein Name ist Noah. Wie heißt du?"
Sie verdrehte die Augen. "Faye."
"Warum bist du hier?", fragte er sie. Er sah seine Chance, einen neuen Menschen kennen zu lernen. Vielleicht konnte er sich ja von ihr Charakterzüge abschauen, die er auch gerne haben würde.
"Meine Schwester lag bis heute hier drin. Schätze mal, werde sie erst an nem anderen Ort wieder sehen. Was ist mit dir?" Normalerweise unterhielt sie sich nicht gerne. Diesmal noch weniger.
"Das Dach ist der einzige Ort hier, wo man ein wenig allein sein könnte. Mein Beileid übrigens." Er war noch nie gut darin gewesen, sein Mitgefühl auszudrücken. Wörter konnten tiefgründig sein, das war keiner seiner Stärken. Er sehnte sich nach Echtheit, doch selbst empfand er seine eigenen Fähigkeiten als wenig entwickelt.
Sie fingen an zu reden, über Gott und die Welt. Ihre Worte waren voller Trauer und seine Blicke voller Mitleid. Sie wollte kein Mitleid, niemand konnte ihre momentane Verfassung greifen. Wie auch, wenn nicht einmal sie das konnte? Sie verstand sich nicht und ihn noch weniger. Wie konnte er den Frühling so lieben? Auf einmal fing wieder alles an zu leben und dieses Gefühl bewirkte Unwohlsein in ihr. Ihre Schwester war für immer weg und die Natur bewies, dass ihr Leben auch nur eines von vielen war. Sie wollte weinen, doch bisher war nur dieses dumpfe Gefühl überall und diese sorglos naive Grundstimmung dieser lauen Frühlingsnacht verbesserte ihren Gemütszustand nicht. Der Anblick der Stadt beunruhigte sie, als sie daran denken musste, wie viele Menschen gerade glücklich waren und fand es unfair, dass gerade sie traurig war, vor allem in einer sowieso schon schrecklichen Jahreszeit.
"Warum magst du den Frühling denn so sehr, dass du wieder anfängst öfter rauszugehen?", fragte sie ihn irgendwann. Sie hatte sich an ihn gewöhnt, reden war trotzdem eine Rarität ihrerseits.
"Äh, ist das nicht logisch?", er zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. Er benutzte viele Füllwörter. "Es ist wieder schöneres Wetter, man kann sich besser mit Leuten treffen und die irgendwie allgemein verbreitete miese Laune ist wieder weg." - "Das ist aber längst kein Grund. Warum wirklich? Ich find den Frühling irgendwie unausstehlich." Er fragte sich, wie das ginge. Den Frühling nicht mögen. Sie musste wahrhaft verrückt sein. Er war verliebt in den Frühling, er mochte das Leben und die schönen vielen bunten Farben dort. Er kam sich primitiv vor, weil er nicht in allem eine tiefere Bedeutung sah. War überhaupt in allem ein richtiger Sinn oder eine richtige Bedeutung? Das konnte doch überhaupt nicht möglich sein, so viele einzelne Bedeutungen konnte es doch gar nicht geben. Er überdachte, ob er den Frühling wirklich so sehr mochte. Er wurde nervös. Das bemerkte sie, sie war ein aufmerksamer Mensch. "Was ist los mit dir, dass du immer direkt so nervös wirst? Hast du keine eigene Meinung, oder was?", fragte sie in einem Ton, der viel zu schroff für seine Sensibilität war. Er ballte seine Fäuste so stark, dass seine Knöchel weiß hervor traten und er ahnte, sobald er seine Hände öffnen würde, wären dort Abdrücke seiner Fingernägel zu erkennen. Er fing an zu stottern. "W-Was? Was me-meinst du? Ich habe w-wohl eigene Meinungen!", versuchte er sich zu verteidigen. "Du machst dich bloß die ganze Zeit schon ü-über mich lustig. Was soll das über-haupt?"
"Das ist gar nicht wahr!", empörte sie sich, "Hör auf mir solche Sachen zu unterstellen." Momentan waren ihr zwar die Gefühle ihrer Mitmenschen relativ gleich, sie wollte nur später kein schlechtes Gewissen haben. Deswegen musste sie dieses im Vorhinein vorsorglich reinigen.
"Irgendwie bist du allgemein sehr komisch, du fragst mich die ganze Zeit super komische Sachen." - "Tut mir leid, wenn du Tiefgründigkeit nicht verstehst, du einfältiger Idiot. Ich versuche hier nur ein Gespräch zu führen. Warum sagst du sowas?" - "Ganz einfach: Du würdest es auch tun. Du kannst mir nichts vorwerfen, was du selbst machen würdest." - "Doch natürlich kann ich! Nur weil ich es mache, heißt das nicht, dass du es auch machen musst. Du hast anscheinend bloß so wenig Persönlichkeit, dass dir nichts besseres einfällt." Leider traf ihn das, was sie sagte, mehr als es sollte. Es tat beiden weh, die Wahrheit hart an den Kopf geknallt zu bekommen.
Und dann, aus heiterem Himmel, fing sie an zu lachen. Und sie lachte immer weiter, während die Stadt vor ihnen schlief. Sie wollte alles halten, was sie hatte und doch war sie so trostlos in diesen Augenblicken, dass sie sich selbst ein wenig mehr hasste.
"Was lachst du so blöd?", fragte er beleidigt und verschränkte seine Arme. Er wirkte wie ein hilfloses kleines Kind und das brachte sie noch mehr zum Lachen. Ihr Bauch schmerzte bald und sie hielt sich selbst nicht mehr aus, ihr Lachen war ihr selbst suspekt. Plötzlich waren ihre Gedanken voller Trauer, genau wie ihr Körper.
Dann stand sie auf, wie aus dem Nichts. Perplex verfolgte der verunsicherte Junge jede einzelne ihrer Bewegungen. Er beobachtete sie, wie sie einfach davon stolzierte, die Luke öffnete und vorsichtig die Leiter ins Haus hinab stieg, noch immer ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Er rief ihr hinterher, sie ignorierte ihn. So saß er allein gelassen dort und starrte den Horizont an, an dem es langsam begann zu dämmern.
"Ich hoffe, du weißt, dass ich immer für dich da gewesen wäre.", flüsterte er in die lauwarme Luft und er verschwand mit ihrem Gefühl im Sonnenaufgang. Und er war verloren in seiner Hoffnung. Und sie wusste es.

Ich hoffe, du weißtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt