Als sie nach einigen Stunden erwachen, sind sie erholt und voller Tatendrang. Sie frühstücken ein paar aus Moos gebackene Fladen, die Rian noch in seinem Proviant hat. Dann sorgen sie dafür, dass das Feuer aus ist und keine Glut übrig geblieben ist.
Sie wollen schließlich nicht, dass irgendetwas Feuer fängt und DIE BLUME am Ende noch Schaden nimmt.
DIE BLUME ist immerhin auch ihr Heiligtum. Sie haben zwar das Volk verlassen, aber das ändert daran nichts. Trotz all ihrer Zweifel und ihrer Gedanken respektieren sie DIE BLUME,
die Gebete an sie, die Demut vor ihr.
Sie zweifeln nicht an DER BLUME selbst. Sie zweifeln nur an dem Zwang und der Unfreiheit, die die Menschen über Jahrhunderte im ihrem Namen ausüben.
Und das ist ein großer Unterschied.
Als alles erledigt ist, schultern sie ihre Jagdtaschen und machen sich wieder auf den Weg. Inzwischen wird es immer steiler und unwegsamer. Irgendwann sind sie an einem Punkt, wo eine ziemlich steile, fast vertikale Wand vor ihnen aufragt. Es gibt Risse darin und kleine Vorsprünge, die man für Hände und Füße nutzen kann, die Wand ist rau und hie und da stehen kleine Ästchen und Verzweigungen hervor, an denen man sich festhalten kann. Aber es wird schwierig werden.
Lix geht voran, Jak und Fro hinter ihm, Flo und Rian folgen.
Sie schaffen die Wand zu erklimmen, oberhalb derer eine quer verlaufende, schmale Rinne ist, auf der sie sich einen Augenblick ausruhen, bevor sie die nächste, ebenso steile Wand in Angriff nehmen.
Sie halten sich nicht aneinander fest, helfen sich nicht gegenseitig. Sie haben nicht darüber gesprochen, es ist mehr instinktiv, aber jeder von ihnen weiß, wieso. Wenn einer von ihnen stürzen würde, würde tatsächlich nur einer stürzen.
Es ist ihnen unangenehm, so zu denken, denn sie sind Freunde, die in der Vergangenheit immer füreinander da waren und das eigentlich auch in Zukunft so wollen.
Aber... es einfach nur vernünftig, so zu handeln.
Lix und Fro haben es auf die nächste Rinne geschafft, nun packen sie doch zu und ziehen Jak zu sich hinauf.
Jak schaut nach den anderen beiden, da rutscht Flo plötzlich ab.
Er hat so ein Ästchen gepackt, um sich daran hochzuziehen, und dieses Ästchen ist einfach abgerissen.
Rian kann nicht anders, er lässt jetzt den Freund nicht im Stich, er packt Flos Handgelenk.
„Scheiße!" schreit Jak, legt sich auf den Boden und versucht, Rian zu erreichen, während Fro und Lix ihn festhalten.
Es ist zu spät.
Das Stück Rinde, das Rian mit der anderen, rechten Hand umklammert, beginnt, abzubröckeln und löst sich von DER BLUME.
Starr vor entsetzen müssen die drei oben auf der Rinne zusehen, wie ihre Freunde mit einem Angstschrei in die Tiefe stürzen.
„Scheiße, Scheiße, Scheiße!"
Jak schlägt in einer Mischung aus Wut und Verzweiflung gegen die Rinde.
„Verdammt, Verdammt!"
Sie stehen fassungslos da und schauen in den Abgrund.
Irgendwie hofft wohl jeder von ihnen, dass das gerade alles ein schlechter Traum ist.
Aber das ist es nicht, es ist die schreckliche Wahrheit. Flo und Rian sind tot. Sie sind nur noch zu dritt.
Sie stehen fast eine halbe Stunde so, bevor Lix sagt:
„Wir können nichts für sie tun... Lasst und weitergehen. Ich will nicht hier bleiben."
Er dreht sich um, Fro ebenso.
Nur Jak steht noch einen Augenblick länger.
Dann wendet auch er sich um und trottet traurig und verzweifelt den Freunden hinterher.
Plötzlich bleibt Fro stehen, und man sieht, dass er am ganzen Körper zittert.
„Es ist alles meine Schuld," stammelt er. „Meine Schuld. Ich hätte nie zulassen dürfen, dass ihr mich begleitet..."
Er schluchzt, schnieft, und ruft beinahe hysterisch:
„Alles meine Schuld,.. meine Schuld..."
Lix geht auf ihn zu und versetzt ihm eine schallende Ohrfeige.
Fro sieht ihn verblüfft an, schweigt aber.
„Jetzt hör mal zu," sagt Lix streng.
„Jeder von uns hat sich aus freiem Willen entschlossen, mit dir zu gehen. Keiner von uns hätte sich irgendwie davon abhalten lassen. Und auch ich trauere zutiefst um unsere Freunde. Aber..."
Er schluckt.
„... das hier, diese Reise, ist besser als alles,was und erwartet hätte, wenn wir im Dorf geblieben wären. Jeder von uns hat seine Gründe, die Enge dort, die Regeln, die Unterdrückung zu hassen. Und jeder von uns hat seine Gründe, das Abenteuer anzunehmen. Lass uns zusammen halten und weitermachen. Das sind wir Flo und Rian schuldig."
Fro nickt, wischt sich die Tränen aus dem Gesicht, schnäuzt sich und sagt leise:
„Du hast recht. Also lasst uns weiter gehen.
Sie gehen.
Schritt um Schritt setzen sie die einen Fuß vor den anderen. Keinem von ihnen fällt es leicht, das Weitermachen. Aber Lix hat recht. Letztendlich ist es der einzige Weg der ihnen bleibt. Zurück können und wollen sie nicht.
Jeder von ihnen hängt seinen Gedanken nach.
Sie bekommen wenig mit von dem, was um sie herum passiert. Die Insekten, die unterwegs sind, summen unbeachtet an ihnen vorüber. Ein paar Blattläuse.. sie drehen nicht mal die Köpfe nach ihnen.
Sie trauern, jeder auf seine Weise.
Und so bringen sie ein weiteres großes Stück Weges hinter sich.
Die Rinne wird schmaler, sie gehen hintereinander und müssen sich zwischenzeitlich eng an die Wand drücken, um nicht auch in den Abgrund zu stürzen. Dann wird sie wieder breiter und sie können bequem gehen.
'Ob wir jemals oben ankommen?' fragt sich Fro. 'Und wenn ja, ob wir finden, was wir suchen? Der Teil des Volkes ist schon vor Jahrhunderten fortgezogen. Ob es sie überhaupt noch gibt? Andererseits... hätte die Prophezeiung mich sonst auf den Weg geschickt, wenn die Aufgabe aussichtslos wäre?'
Er weiß es nicht. Und all das Grübeln bringt ihn ja auch nicht weiter.
Und so geht er vorwärts, Schritt für Schritt, Fuß vor Fuß, bis sie schließlich vor dem Eingang zu einer Höhle stehen.
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Das Volk unter DER BLUME
FanfictionKennt ihr den Song "Polemonium" von Fewjar und das grossartige Musikvideo dazu? Falls nicht, schaut es euch bitte an! Jetzt! Das Video erzählt eine Geschichte. Diese Geschichte habe ich hier in meiner Story aufgegriffen und nacherzählt, und natürli...