Genug! Sie konnten ihn hier nicht einfach festhalten!
Herr Schleeberg fuhr sich durch die wenigen weißen Haare, die die Zeit ihm gelassen hatte, und blickte sich in seinem Zimmer um. Nichts davon gehörte ihm. Wie war er überhaupt hierher gekommen? Ihm war, als sei er aus einem Traum erwacht und stünde plötzlich inmitten dieser fremden Möbel, umnebelt von einem Geruch wie alte Socken. Er wusste, dass er schon oft in diesem Zimmer gewesen war, aber er gehörte nicht hier hin.
Ohne weiter darüber nachzudenken, schlüpfte er in seine Schlappen und verließ das Zimmer. Er stand in einem mit Linoleum ausgelegten Flur. Intuitiv setzte er einen Fuß vor den anderen, bog einmal rechts und zweimal links ab und steuerte auf die große Flügeltür aus Glas zu, hinter der sich der Frühling in seinen schönsten Farben zeigte.
»Herr Schleeberg!«, hörte er irgendwo in weiter Ferne – oder hatte er sich geirrt?
Er reagierte nicht, sondern ging stoisch seinen Weg. Noch ein paar Meter, bis er draußen war. Wer wollte ihn jetzt davon abhalten, sich seine Freiheit zurückzuholen und endlich das Nest zu verlassen, in dem er hier gefangen war? Dies war der letzte Platz, an dem er sein wollte. Die klinische Atmosphäre, die weißen Klamotten der Menschen um ihn herum, einfach alles hier widerte ihn an.
Herr Schleeberg beschleunigte seine Schritte. Er blickte nicht zurück, als er durch die Tür trat. Der Wind war kühler als vermutet. Welchen Monat hatten sie überhaupt? War es Februar oder schon April? Die Sonne schien, aber Knospen suchte er an den Bäumen vergebens.
»Unwichtig«, beschloss er, seinen Weg fortsetzend.
Wohin jetzt? Kurz blieb er stehen und sah die Straße hinunter.
Am besten zu seinem Kameraden. Auf Fritz konnte man sich immer verlassen. War er es nicht gewesen, der ihm bei seiner Einberufung beigestanden hatte? Als sich Herr Schleeberg fast geweigert hatte, sein Vaterland zu verteidigen, war es nicht Fritz gewesen, der mit ihm gegangen war?
Er musste sich bedanken. Zu viele Tage waren ins Land gezogen. Herr Schleeberg konnte sich kaum daran erinnern, wann er Fritz zuletzt gesehen hatte. Wo wohnte er noch? Und wie kam er dorthin?
»Ich will Fritz besuchen«, wiederholte Herr Schleeberg seine Gedanken laut und ging die Straße hinunter.
Eine Frau mit einem Hund zog an ihm vorbei und warf ihm einen skeptischen Blick zu. Er blickte sie an und überlegte, ob er sie kannte, aber sie war ihm völlig fremd. In letzter Zeit kam es immer wieder vor, dass ihm seine Gedanken wie Morgennebel vorkamen: definitiv da, aber schwer zu greifen, und sobald er es versuchte, verschwanden sie. Die Frau würdigte ihn keines weiteren Blickes und zog von dannen.
»Herr Schleeberg!«, erklang es hinter ihm, aber er ignorierte die piepsige Stimme. Seine Mission war klar und er würde sich nicht davon abbringen lassen. Nicht schon wieder. Er musste Fritz besuchen.
»Herr Schleeberg,Sie können nicht einfach weggehen und niemandem Bescheid sagen«, insistierte die Frauenstimme mit osteuropäischem Akzent.
»Ich muss zu Fritz«, antwortete er und ging rigoros seinen Weg weiter.
Musste er jetzt die Straße überqueren oder doch nach links? Die Gebäude hier sahen überhaupt nicht so aus, wie er sie in Erinnerung hatte. War hier nicht sonst eine große Eiche gewesen? Und wo war das kleine gemütliche Haus aus gelbem Stein, aus dem Fritz und er eines Nachmittags Pflaumen geklaut hatten?
Eine dicke Frau, die eineinhalb Köpfe kleiner war als er, schloss zu ihm auf. Sie hatte einen Regenschirm aufgespannt, den sie nun hochhielt, sodass er auch ihn überdachte. Er hatte gar nicht gemerkt, dass es regnete.
»Ich muss zu Fritz«, sagte Herr Schleeberg erneut.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Wir gehen jetzt zurück in Ihr Zimmer und ziehen Ihnen trockene Klamotten an, okay?« Langsam zog sie an seinem Arm und zuerst ließ er sich führen, doch als er merkte, dass sie ihn zurück ins Gefängnis bringen wollte, blieb er stehen. Sie konnte sich noch so sehr anstrengen, Herr Schleeberg blieb standhaft wie die Zugspitze.
»Ich muss zu Fritz.«
Die Frau seufzte. »Wir müssen Sie aus diesen Klamotten kriegen und in einer halben Stunde gibt es schon Abendbrot. Bitte, Herr Schleeberg, Sie waren doch schon gestern bei ihm.«
Irritiert schüttelte er den Kopf. Wie kam sie darauf, dass er Fritz gestern gesehen hatte? Seine Gedanken waren leer. »Nicht ins Gefängnis.«
Sie lachte auf. »Aber Sie gehen doch nicht ins Gefängnis! Wir bringen Sie zurück in den Seniorenstift. Frau Meyer-Helbrich freut sich schon darauf, mit Ihnen Skat zu spielen. Sie wollten es ihr doch beibringen.« Die kleine Frau versuchte wieder, ihn mit sich zu ziehen.
»Nein.«
Sie seufzte und blickte ihn prüfend an. Dann gab sie resigniert nach. »Na gut, kommen Sie.« Sie hakte sich bei ihm unter und führte ihn über die Kreuzung, weit weg vom Gefängnis. Von irgendwoher kannte er sie. War sie eine Nachbarin seiner Mutter gewesen? Oder die Arzthelferin von Dr. Medow, seinem Zahnarzt? Die Antwort war irgendwo in seinem Kopf, aber sie ließ sich nicht finden.
»Hier entlang.« Die kleine Frau zog sanft an seinem Arm und bugsierte ihn durch ein schmiedeeisernes Tor. Statt auf dem gepflasterten Gehweg zu laufen, schlurften seine Hausschuhe nun über nassen Kies.
Herr Schleeberg blieb abrupt stehen. Hier wohnte Fritz nicht. Hier wohnte niemand.
»Nein«, sagte er fest und riss sich vom Klammergriff seiner Begleiterin los. »Nein, nein!«
Ein grausamer Grabstein reihte sich an den anderen. Namen längst vergessener Personen, eingraviert in ewigen Fels.
Die Frau ging einfach weiter und hielt ihm ihre Hand hin. Ganz langsam folgte er ihr, die Hände knetend. Das durfte nicht wahr sein. Warum brachte sie ihn hierher?
»Jetzt rechts.« Die Frau passte sich seinem Tempo an. Zu gern hätte er sich daran erinnert, wer sie war und wie sie hieß. Er unterdrückte den Impuls, sich an ihren Arm zu klammern, obwohl er nichts lieber getan hätte. Selten hatte er sich so verloren gefühlt.
Vor einem Grab, auf dem ein Strauß aus weißen Hortensien stand, hielten sie an.
Herr Schleeberg griff sich zuerst an sein Herz, dann an seinen Kopf. Als ihm auffiel, dass er keinen Hut trug, ließ er die Hand langsam wieder sinken.
»Mein Freund«, flüsterte er und strich über die Blumen. Auf dem Grabstein las er:
Fritz Habermann
Geboren am 12.12.1930
Gestorben am 24.01.2005
Herr Schleeberg ließ sich von schmerzhaften Tränen überrennen. »Welches Jahr haben wir?«, fragte er mit brüchiger Stimme.
»Zweitausendsiebzehn.«
Er schluckte. Es war nicht neunzehnhundertsiebenundvierzig? Fritz wohnte nicht mehr in dem alten Backsteinhaus und ärgerte seine drei Schwestern?
»Kommen Sie«, sagte die Frau, deren Anwesenheit Herr Schleeberg schon vergessen hatte. Sie zog ihn sanft am Arm und er ließ sich von ihr wegführen. Sein Kopf fühlte sich vollkommen leer an.
Als sie den Weg entlanggingen, zurück dorthin, woher sie gekommen waren, fiel es ihm wieder ein. Er erinnerte sich wieder daran, wer er war, warum er das Gefühl hatte, nicht in diesen weißen Komplex zu gehören und dennoch keine Möglichkeit zu haben, zu entkommen:
Er war Maximilian Schleeberg, achtundachtzig Jahre alt. Seit Jahren lebte er im Seniorenheim an der Rilkestraße. Er war verheiratet gewesen und hatte seine Sofie vor vielen Jahren verloren. Fritz war nur kurz danach aus seinem Leben geschieden.
Eine tiefe Traurigkeit schlich sich in sein Herz und er wischte sich über die Augen.
Sofie.
Er vermisste sie so schrecklich. Seine Augen füllten sich erneut mit Wasser. Die Frau an seiner Seite tätschelte seinen nassen Pullover.
Gemeinsam gingen sie zurück. Herr Schleeberg hoffte, dass sich der Nebel der Vergessenheit bald wieder über ihn legen würde.
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Herr Schleeberg haut ab
Short StoryEs reicht! Herr Schleeberg hat genug vom modrigen Alte-Socken-Geruch, den weißgekleideten Mitarbeitern in seinem Gefängnis und der ständigen Beobachtung. Es ist Zeit, zu gehen.