Kapitel 2

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Mein zweiter Tag beginnt und ich bin genau so aufgeregt wie gestern. Heute werde ich mich nicht verplappern! Ich werde ganz entspannt und vollkommen normal sein. Ganz normal, sehr normal, total normal. Meinen eisblauäugigen Chef werde ich nicht beleidigen und oder als Mondschein betiteln. Bei den Beleidigungen weiß ich aber noch nicht so ganz. Heute will ich einen grauen Bleistiftrock anziehen. Auf Schwarz oder auf Weiß? Ich nehme lieber Schwarz, weil ich gestern schon etwas Weißes anhatte und kombiniere es auf meine schwarzen Stiletto-Absätze, mit denen ich die zwei Wochen Probelaufen absolviert habe. Selbst gewischt habe ich in ihnen und habe mir fast die Nase gebrochen, aber am Ende war es doch nur ein weggeknicktes Fußgelenk. Wie der Tag heute sein wird? Schlimmer als gestern kann es ja nicht werden. Am besten nehme ich die Treppen, sodass ich meinen Chef nicht begegne. Aber ich habe gar keine Lust, bis in die zwanzigste Etage zu stöckeln. Wer sagt überhaupt, dass ich ihm heute begegne? Oh Gott, hoffentlich halte ich heute die Klappe und vermassele nichts. Ich habe noch sechs Tage und dann habe ich meinen ersten Kunden, den ich beraten muss. Eigentlich nichts Schweres, da ich es in der Ausbildung und im alten Job sehr oft getan habe, aber in einer so großen Firma sind bestimmt anspruchsvollere Kunden. Ich esse schnell zu Ende, trage roten Lippenstift auf und laufe runter, wo mir die Sonne entgegen scheint. Sonne steht für Positives, also wird heute nichts schiefgehen ... hoffentlich.

Auf dem riesigen Hinterhof steht ein Parkplatz frei, weswegen ich schnell mit meinem Käfer den Platz einnehme und den Autofahrer heimlich auslache, der mir den Platz stehlen wollte. Nicht mit mir! Ich genieße die letzten Sonnenstrahlen, bevor ich von der kühlen Luft im Gebäude empfangen werde und mich zu den Leuten stelle, die auf den Aufzug warten. Es sind drei Aufzüge, wovon einer anscheinend für eine Wartung außer Betrieb ist, und ich weiß, dass die beiden anderen rappelvoll sein werden. Und siehe da! Beide Aufzüge werden gut gefüllt, weswegen ich mich entscheide, auf den nächsten zu warten. Während der eine losfährt, versucht einer den anderen Aufzug offen zu halten. Wieso? "Gehen Sie ruhig, ich warte." Sofort verstehe ich, wieso der Aufzug offen gehalten wurde. Pff! Also nur, weil er ein Chef ist und ich eine Angestellte, heißt es, dass man mir keine Mitfahrt anbieten kann? Pff, dass es so etwas wie Gleichberechtigung gibt, wissen diese Menschen anscheinend nicht. Aus Prinzip schnaube ich verächtlich und spiele mit meiner Strähne herum. Meinem Chef geht es an seinem Arsch vorbei, was ein Arsch! Ich steige in den Aufzug und drücke passiv-aggressiv auf die Zwanzig, bevor ich meine Arme vor meiner Brust verschränke und versuche den sinnlichen Duft meines Chefs zu ignorieren.

"Sie sind anscheinend nicht gut gelaunt." Oh, es ist ihm doch aufgefallen. "Irgendwie schon", murmele ich, woraufhin Stille einkehrt. Wieso fragt er nicht nach?! Egal. Ich sage nichts, denn heute soll alles entspannt ablaufen. Ganz entspannt. Total entspannt. Als wir aus dem Aufzug steigen, atme ich leise aus. "Shirin?" Wieso spricht er meinen Namen so schön aus? Ich drehe mich zu meinem Chef, dessen Augen so schön leuchten und höre wieder die Geigen in meinem Kopf spielen. "Bringen Sie mir einen Kaffee in mein Büro." Sofort verstummen die Geigen und ein leises Schnauben entkommt mir. Das ist dein Job, meckere nicht! Ich drehe mich trotzig um und laufe an Narins Platz vorbei. Erst als ich richtig hinschaue, bemerke ich, dass sie nicht da ist und bringe dem bitteren Kaffeetrinker, der gerade am Telefonieren ist, seinen bitteren Kaffee. "Shirin?", fragt er, als ich gerade die Tür aufmache. "Ja?" Langsam drehe ich mich um und sehe, wie er sein Handy zur Seite legt. "Könnten Sie mir heute meine Termine sagen?" Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen. "Muss das nicht die Sekretärin machen?" Er nickt. "Aber Narin ist erkrankt." Ach, deswegen ist sie nicht da. Ich dachte, sie hat verschlafen. "Narin hat Ihnen die Informationen per E-Mail geschickt." Mein Blick ist immer noch skeptisch. Wenn nicht, sogar noch skeptischer. "Und Narin konnte es Ihnen nicht am Telefon sagen oder Ihnen direkt die E-Mail zusenden?" Meine Hand rast viel zu spät bei seinen geweiteten Augen zu meinem Mund. Nicht schon wieder!

Tollpatschige LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt