Endlich, Freitag, 17 Uhr, die Arbeit im Büro ist vorbei. Ich mag meinen Beruf nicht besonders. Den ganzen Tag am Computer und den Papierkram eines Spitals erledigen. Der einzige Grund, der mich noch hier hält, ist meine inzwischen beste Freundin Helene. «Ciao Verena – bis heute Abend», verabschiedet sie sich. Mit einem vollen Kopf mache ich mich auf den Weg nach Hause. In Gedanken versunken laufe ich der Strasse entlang. Um diese Zeit ist viel los. Alle haben Feierabend und wollen nach Hause – genau wie ich. Plötzlich stosse ich mit einem Mann zusammen. «Pass doch auf!», sage ich genervt. Er schaut mich mit einem leeren, durchdringenden Blick an und murmelt etwas. Ich habe es nicht verstanden. Wahrscheinlich sollte es eine Entschuldigung sein. Ich laufe weiter der Strasse entlang. Bald werde ich zu Hause sein und mir eine herrliche Dusche gönnen, danach ein Glas Rotwein geniessen und mich für den Ausgang mit Helene vorbereiten. Diese Gedanken machen mich glücklich. Eine ältere Frau, die ich oft auf dem Nachhauseweg sehe, lächelt mich an. Meint sie mich? Hat sie gemerkt, dass ich mich auf heute Abend freue? Ahnt sie, was ich heute Abend mache? Schnell schiebe ich diese Gedanken beiseite und laufe ein bisschen schneller.
Zu Hause lege ich wie immer den Schlüssel auf die Kommode und schaue die Post durch: die Tageszeitung, eine Postkarte von meiner Mutter und die Rechnung von der Krankenkasse. Mehr hat der Postbote heute nicht gebracht. Nun gibt es die verdiente Dusche und ein Glas Rotwein. Auf dem Sofa blättere ich die Zeitung durch. Wieder musste eine Firma einige Arbeitsplätze streichen wegen der Wirtschaftskrise. Das kommt fast täglich vor, dass gespart werden muss und den Arbeitern gekündigt wird. Im Sportteil gibt es auch nichts Besonderes und bei den Todesanzeigen kenne ich auch niemanden. Ich stelle mir vor, wie meine Todesanzeige aussehen könnte. Wird sie einen Bibelspruch haben, auch wenn ich nie in die Kirche gehe? Wer würde um mich trauern? Schnell will ich diese absurden Gedanken wieder loswerden. Ich lege die Zeitung beiseite und schaue in meinen Kleiderschrank. Jeden Freitagabend stehe ich vor dem gleichen Problem. Was soll ich für den Ausgang mit Helene anziehen? Ich wähle den Minirock mit dem Leopardenmuster und ein schwarzes Top.
Um Punkt 22.00 Uhr kommt Helene mich abholen. Wir gehen in unsere Lieblingsbar, das kleine Pub. Es läuft nicht viel. Schon bald haben wir uns einen kleinen Schwips angetrunken. Ein Typ beobachtet mich ständig. Ich fühle mich entblösst, als ob er in mich hinein sehe und meine Gedanken lesen könnte. Ein beklemmendes Gefühl überfällt mich. Ich will raus aus diesem Laden, bevor mich dieser Mann verrückt macht. Ich packe Helenes Hand und zerre sie mit mir. «Was ist denn mit dir los?», fragt sie mich draussen auf der Strasse. «Du spinnst doch! Lass uns wieder hineingehen, mir wird kalt» - «Ich gehe ganz bestimmt nicht mehr hinein. Ich gehe nach Hause.»
Plötzlich schrecke ich aus dem Schlaf hoch. Mein Herz pocht, mein Atem geht schneller. Ich zittere am ganzen Leib, mir ist warm und kalt zugleich. Meine Augen sind weit aufgerissen, sie saugen alle Informationen aus meinem Schlafzimmer auf. Meine Kleider liegen noch am Boden, der Stuhl steht mitten im Raum. Der Wecker zeigt kurz vor vier. Mein Kopf scheint zu platzen. Die Gedanken fahren Achterbahn, der Kopf schmerzt. Wie ein pochendes, dumpfes Schlagen fühlt es sich an. Ich halte meinen Kopf fester. Den Schmerz versuche ich irgendwie zu unterdrücken. Es gelingt mir nicht. Mein Körper rollt sich zusammen. Leise beginne ich zu weinen. Bis zum Morgen liege ich bewegungslos in meinem Bett. Ich versuche mich innerlich zu beruhigen. Es war nur ein Traum. Hier ist nichts, rede ich mir ein. Mein Kopf dröhnt immer noch. Inzwischen zeigt der Wecker kurz nach sechs. Die Kleider liegen noch immer am Boden, genauso, wie der Stuhl noch immer mitten im Raum steht. Draussen beginnt es langsam heller zu werden. Da! Was war das? Ich höre das Quietschen von bremsenden Reifen. Sofort zieht sich mein ganzer Körper zusammen. Wer kommt um diese Zeit zu mir? Will jemand etwas Böses? Nein, das ist bestimmt der Nachbar oder sonst jemand, versuche ich mich zu beruhigen. Doch alles nützt nichts. Der Minutenzeiger der Uhr dreht langsam seine Runden und ich liege noch immer zusammengerollt im Bett. Nichts hat sich verändert. Der Kopf schmerzt, die Kleider liegen herum und auch der Stuhl hat sich nicht selbständig gemacht. Seit vier Uhr habe ich kein Auge zu getan. Jetzt ist es bald 10 Uhr. Es klingelt an der Tür. Wieder verkrampft sich mein Körper. Ich kann mich kaum bewegen. Die Angst kriecht in mir hoch. Wer ist an der Tür? Was will derjenige? Ist er aus meinem Traum? Es klingelt ein zweites Mal. Ich ziehe die Decke hoch bis über den Kopf. Ein drittes Mal ertönt die Glocke. Du gehst ganz bestimmt nicht an die Tür, höre ich eine innere Stimme sagen. «Das werde ich nicht», flüstere ich leise vor mich hin. Das Klingeln ist verstummt. Doch bevor ich mich entspannen kann, klingelt das Handy. Ich erschrecke fast zu Tode. Dieser Ton schmerzt in meinen Ohren. Auf dem Bildschirm erscheint ein Bild von Helene und mir. Soll ich abnehmen? Ist es wirklich Helene? Ich lasse es vier Mal klingeln, dann nehme ich den Anruf an. Einen Moment lang ist es still. Ich will mich nicht als Erste melden. «Verena, bist du da?», höre ich sie sagen. Ich antwortete mit Ja. «Was ist denn los mit dir? Ich war vorhin an deiner Tür. Bist du noch immer wütend wegen gestern? Warte, ich komme gleich nochmals vorbei und bringe frische Brötchen mit.», sagt sie und legt auf. Eine Viertelstunde später klingelt es wieder an der Haustüre. Ist das wirklich Helene, wie sie es gesagt hat? Ich schleiche mich langsam zur Türe. Es klingelt ein zweites Mal. «Wer ist da?», frage ich unsicher. «Ich bin es, lass mich rein.» Dies ist eindeutig die Stimme von Helene. Vorsichtig öffne ich die Tür und lasse sie herein. «Bitte verzeihe mir. Ich hätte dich gestern nicht im Stich lassen dürfen», entschuldigt sie sich bei mir. Ich antworte nicht und starre sie nur an. Sie schaut mich schräg an und fragt nach einer Weile: «Stimmt etwas nicht? Du verhältst dich so eigenartig.» - «Nein, alles ist in Ordnung. Ich habe nur schlecht geschlafen.» Sie mustert mich kurz von oben bis unten. «Wollen wir frühstücken? Ich habe extra frische Brötchen mitgebracht», sagt sie und hält eine Papiertüte hoch. Kaum hat sie dies gesagt, verschwindet sie auch schon in der Küche. Kurze Zeit später steht ein tolles Frühstück auf dem Tisch. «Komm setz dich und iss», muntert sie mich auf und beginnt zu essen. Langsam setze ich mich zu ihr und nehme auch ein Brötchen.
Direkt nach dem Frühstück geht Helene nach Hause. Ich lege mich wieder ins Bett und denke über meinen Traum nach. Meine Augen schliessen sich langsam.
Ich stehe in einer dunklen Gasse – ganz alleine. Nur eine Laterne brennt. Ich schaue mich um. Im fahlen Schein erkenne ich die Ecken der Häuser. Hinter dem Haus dort – was ist das? Langsam kommt ein Schatten näher. Dunkel wie die Nacht mit feurigen Augen. Sein Blick durchdringt mich. Einen Moment bleibe ich stehen, dann beginne ich zu rennen. Ein hoher, kreischender Ton dröhnt in meinen Ohren. Ich bleibe stehen und halte sie zu. Der Ton wird tiefer wie ein Bass. Jeden Moment scheinen mir die Ohren zu zerspringen. Wie ein Glas, das man zu Boden wirft. Was geht hier vor? Denke ich. Der Schatten kommt immer näher. Er versucht mich zu ergreifen. Ich renne wieder. Der Ton wird höher, schrill wie eine Sirene. Hört dies nie auf!? Ich halte meine Ohren immer fester zu. Die Gassen scheinen unendlich lang zu sein. Ich renne und renne. Ein dumpfer Aufprall an eine Wand. Ich falle zurück auf den Boden. Schnell stehe ich auf und renne weiter. Dieser schreckliche Ton stets in den Ohren. Etwas läuft mir warm über die Wange. Ist es Blut? Ich weiss es nicht. In der Dunkelheit kann ich nichts erkennen. Ich spüre, wie ich langsamer werde. Die Kraft verlässt mich. Der Ton in meinen Ohren wird wieder tiefer, aber nicht angenehmer. Alles bewegt sich plötzlich in Zeitlupe. Ich komme nicht vorwärts, doch der Schatten nähert sich immer mehr. Ich kratze meine Ohren auf um den Schmerz zu erdrosseln. Warm rinnt es mir aus den Ohren und den Hals hinunter. Ich bleibe stehen, taste an meinen Hals und sehe im Licht einer Laterne, dass es Blut ist. Ich schaue mich um. Was soll ich machen? Ich habe keine Kraft mehr. In der Dunkelheit kann ich nichts erkennen. Nur der Schatten, der mich noch immer verfolgt. Bald hat er mich eingeholt. Ich stolpere an die Wand eines Hauses. Der kreischende Ton wird wieder höher. Ich kaure mich in eine Ecke nun ist er wieder tief. Das Monster kommt immer näher. Ich weine. Das Blut an meinem Hals mischt sich langsam mit meinen Tränen und dem Schweiss. Meine Hände halten noch immer meine Ohren. Am liebsten würde ich sie wegreissen. Jetzt steht er direkt vor mir. Ein Arm kommt aus dem Schatten hervor und versucht, nach mir zu greifen. Kurz bevor er mich packt, zerfällt alles in Tausende von Spinnen. Sie kommen auf mich zu und überrennen mich. Ich kreische!
Ich schnelle hoch. Schaue um mich. Die Spinnen sind weg. Mein Herz pocht wild und der Atem rast. Schweiss überströmt, sitze ich in der Badewanne. Bestimmt werden sie jeden Moment aus dem Abfluss hervorkrabbeln. Ich erschaudere bei diesem Gedanken. Ich erstarre. Die Gedanken schwirren wild im Kopf herum. Er dröhnt. Ich rolle mich fest zusammen und halte mit beiden Händen den Kopf. Etwas klebt an meinem Hals. Was ist das? Ich taste danach. Es ist warm. Meine Hände sind Blut verschmiert. Wie erstarrt bleibe ich sitzen.
Noch immer sitze ich in der Badewanne. Gelassen geht mein Atem. Ruhe ist eingekehrt. Mein Kopf schmerzt noch immer. Die Wunden an meinen Ohren brennen, als ob jemand sie mit Alkohol übergossen hätte. Wie ein Blitz durchfährt es mich. Es war derselbe Traum wie am Morgen. Hat dies etwas zu bedeuten? Ich muss hier raus! ist mein nächster Gedanke. Ich ziehe Jacke und Schuhe an. Fluchtartig verlasse ich die Wohnung. Kurz lehne ich mich an eine Hauswand und hole einige tiefe Atemzüge. Ziellos gehe ich durch die Strassen. Mein Traum lässt mir keine Ruhe. Je länger je mehr spüre ich, dass mich etwas verfolgt. Ich erhöhe mein Schritttempo. Mein Kopf beginnt wieder mehr zu schmerzen. Und leise höre ich ein kreischender, stetig anhaltender Ton. Ich schaue zurück. Ich sehe nichts. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass irgendetwas mich beobachtet. Langsam wird mir heiss. Das Herz pocht bis zum Hals. Wieder werfe ich einen kurzen Blick über die Schulter. Da – was ist bei diesem Haus? Dort versteckt sich doch etwas. Ich laufe schneller, renne nahezu. Angst steigt in mir auf. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Der Ton im Ohr wird immer lauter und höher. Ein flüchtiger Blick nach hinten, ist dort nicht der Schatten? In der Dämmerung hat er mich mit seinen feurigen Augen angestarrt. Ich bin überzeugt, er hat ein böses Grinsen im Gesicht. Ich beginne zu rennen. Die Leute vor mir springen erschrocken zur Seite. Sie rufen mir Schimpfwörter nach, doch diese fliegen an mir vorbei. Mein Kopf dröhnt mehr und mehr. Wild schwirren die Gedanken herum. Das Kreischen wird zu einem hohen Quietschen. Das Herz schlägt noch schneller. Ich spüre das Pulsieren am ganzen Körper. Wie durch einen Tunnel renne ich die Strasse hinunter. Mein Blick hastet immer wieder zurück. Motorengeheul, kreischendes Bremsen, Scheinwerfer blenden. Ich reisse meinen Mund auf. Noch bevor ich schreien kann, ertönt ein dumpfer Aufprall...