Eine Geschichte

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„Wann sind wir endlich da?" Das dritte Mal. Er fragt das schon das dritte Mal. Das dritte Mal in einer Viertelstunde.

„In einer Stunde", kommt die Antwort vom Beifahrersitz. Eine Stunde und dann sind wie bei Oma.

Eine Minute Stille.

„Mir ist langweilig", mault er. Ich blicke genervt von meinem Buch auf. Kann er nicht einmal still sein?

„Kira, beschäftige du dich mit deinem Bruder", kommt die Anweisung. Wieder vom Beifahrersitz. Ich versuche weiter zu lesen. Ich habe nicht gehört, was sie gesagt hat. Zumindest rede ich mir das ein.

„Kira!" Die Stimme von ihr ist lauter. Ich sehe nach vorne. Stumpf nach vorne. An den Fensterscheiben laufen Regentropfen hinunter. Nass und kalt. Hier drinnen ist es trocken und warm.

Ich sehe nach links. Ben grinst mich an. Ein breites Grinsen. Und eigentlich auch ein nettes Grinsen. Ich habe keine Lust auf dieses Grinsen. Ich habe keine Lust auf dieses Grinsen, weil ich weiß, was es heißt.

Eine Geschichte, das heißt es.

Er will eine Geschichte hören. So wie immer. Jeden Abend muss ich ihm eine Geschichte erzählen.

„Nein", sage ich und klappe das Buch zu.

„Bitte", bettelt er. Das Betteln eines Fünfjährigen. Das Betteln meines Bruders.

„Ich weiß keine Geschichte", lüge ich. Ich weiß immer eine Geschichte...

„Du weißt immer eine Geschichte." Wieso kennt er mich so gut?

„Ben, du nervst." Ich sehe den Regentropfen zu. Wie sie in kleinen Rinnsalen die Scheibe runterfließen.

„Ich will eine Geschichte." Empört verschränkt er die Arme vor der Brust und zieht einen Schmollmund.

„Kira, erzähl ihm eine Geschichte!" Wieder die Stimme meiner Mutter vom Beifahrersitz. Die Regentropfen prasseln gleichmäßig aufs Dach.

„Ich weiß keine", wiederhole ich.

Eine Minute Stille.

„Wann sind wir da?"

„In fünfundfünfzig Minuten", antwortet die Stimme vom Fahrersitz. Ich mag die Stimme meines Vaters lieber. Sie ist ruhiger und gutmütiger.

„Oma kann ihm eine Geschichte erzählen, wenn wir da sind." Ich sehe zu Ben. Er zieht immer noch seinen Schmollmund. Draußen sieht man eigentlich nur noch grau. Der Regen ist dicht. Die Straße ist nass. Der Verkehr auf der Autobahn hält sich in Grenzen.

„Ich will eine Geschichte!" Er kreischt mit einer hohen kindlichen Stimme.

„Ich weiß aber keine", wiederhole ich mich zum dritten Mal. Wenn ich aus dem Fenster sehe, kann ich schon gar nichts mehr sehen. Auf der Straße steht schon das Wasser.

„Ich will eine Geschichte!" Seine Stimme übertönt sogar schon das Trommeln des Regens. Rote Rücklichter eines LKWs tauchen vor uns auf.

„Ich weiß aber keine", sage ich während ich bemerke, dass wir zu schnell fahren. Mein Vater müsste jetzt eigentlich bremsen...

„Ich will eine Geschichte!" Seine Stimme ist dröhnend laut.

„Die Bremsen funktionieren nicht", höre ich ganz leise die Stimme vom Fahrersitz.

Die Bremsen funktionieren nicht...

Die roten Rücklichter sind ganz dicht vor unserem Auto. Sie strahlen ganz hell.

„Ich will eine Geschichte!" Ist das letzte, was ich höre.

Dann kommt der Aufprall. Unser Auto prallt gegen den LKW.


Ich weiß keine Geschichte, denke ich.

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