Plötzlich hält der Wagen an und ich werde aus meinen Gedanken gerissen. Jim hat sein Handy bereits weggesteckt und steigt schon aus, sodass ich mich beeilen muss um hinterher zu kommen. Wir haben vor einem gigantischem Bau aus Glas und Stahl angehalten, der bis hinauf in den Himmel zu reichen scheint. Wir betreten das Gebäude durch die Glastüre und befinden uns nun in einem großen Eingangsbereich, in dem sich aber nur zwei Menschen aufhalten. Das sind zwei in schwarze Anzüge gekleidete Männer, die nun auf Jim zukommen. Dieser ignoriert sie, bis einer von ihnen auf mich zugehen will.
"Sie gehört zu mir", meint er einfach nur, da wendet sich der Bodyguard von mir ab. Stattdessen eskortiert er uns, zusammen mit dem anderen Bodyguard. Jim geht zielstrebig auf einen der beiden Aufzüge auf der linken Seite zu und steigt ein, woraufhin wir ihm folgen. Irgendwie fühle ich mich so wie bei Mister Wulf, als wäre ich eine Sekretärin, die immer nur ihrem Chef hinterherlaufen muss.
Im Aufzug bleibt es still, nichtmal Musik spielt. Die Bodyguards verziehen keine Miene, ihre Gesichter bleiben starr und ernst. Jim wirkt mit den Gedanken abwesend, sodass ich ihn gut beobachten kann. Seine Stirn legt sich in Falten, glättet sich wieder und er bewegt leicht den Kopf.
Da hält der Aufzug an, die Türen öffnen sich, und wir betreten einen langen, türenbesetzten Gang. Leute in Anzügen laufen umher und sind geschäftig bei der Arbeit, doch als Jim gefolgt von mir und seinen Bodyguards an ihnen vorbeigeht, bleiben sie stehen und verstummen. Ich spüre ihre Blicke auf mir, als würden sie mich mit Fingern antippen, aber ich beachte sie alle nicht. Einfach nur weitergehen.
Schließlich gelangen wir durch eine Tür in einen weitläufigen, aber recht kargen Raum, dessen komplette Wand gegenüber der Tür aus Fenstern besteht. Vor der Fensterfront steht ein eleganter Schreibtisch, und zu unserer Linken befinden sich zwei Türen, die allerdings geschlossen sind.
"Das Treffen ist erst um elf, ich werde aber früher schon wieder zurück sein. Du wartest hier", weist Jim mich an während er etwas aus dem Schreibtisch holt. Nervös werfe ich einen Blick zu den Bodyguards hinüber, doch diese ignorieren mich vollkommen.
"Und was soll ich bis dahin machen?", erkundige ich mich vorsichtig, da schaut Jim mich an. Seine Augen sind so dunkel und ausdruckslos.
"Du kannst dich hier drin frei bewegen, solange du den Schreibtisch in Ruhe lässt. Ich mag es nicht wenn jemand an meine Sachen geht."
Fast muss ich ein Schnauben unterdrücken. Einer unserer heftigsten Streits hatte den Grund, dass Jim unerlaubt an meine Sachen gegangen ist um mich zu 'überwachen'.
"Okay", antworte ich und nicke. Ich habe zwar noch immer keine Ahnung was ich die nächsten zweieinhalb Stunden machen soll, aber das erzähle ich ihm lieber nicht. Hätte ich gewusst, dass das Treffen erst um elf ist, hätte es vollkommen gereicht wenn ich erst um neun aufgestanden wäre.
"Dann bis später", murmele ich als Jim an mir vorbeigeht, aber er reagiert nicht. Seine Bodyguards folgen ihm aus dem Raum hinaus wie zwei Schatten, dann fällt die Tür zu und ich bin alleine. Alleine in Jims Büro.
Neugierig beginne ich mich hier umzusehen, auch wenn ich die ganze Zeit ein mulmiges Gefühl in der Magengegend habe, so als würde ich beobachtet. Hinter einer der Türen auf der linken Seite befindet sich ein Bad, hinter der anderen ein kleines Schlafzimmer, zu meiner Überraschung. Das Bett ist kaum groß genug für eine Person, außerdem ist es nicht besonders weich. Wahrscheinlich schläft Jim hier eigentlich nicht.
Kurzerhand rieche ich an der Decke, doch der einzige Geruch, der daran hängt, ist der nach irgendeinem Waschmittel. Also schläft er hier tatsächlich nicht.
Nachdem ich auch noch das Bad inspiziert habe, setze ich mich an Jims Schreibtisch auf seinen Drehstuhl. Dieser Stuhl ist weicher, bequemer. Hier kann man bestimmt gut arbeiten. Außerdem rieche ich hier einen Hauch von Jims Aftershave, weswegen ich mich dazu entschließe, hier die restliche Zeit auszuharren. Den Schreibtisch rühre ich nicht an.
Dadurch, dass ich noch so lange warten muss, habe ich wenigstens Zeit zum nachdenken. Über meinen Vater, über Jim, über Adler. Ein wenig auch über Sybille und Jamie. Aber am meisten über mich selbst.
Ich meine, wer bin ich eigentlich? Außer der Frau eines kriminellen Psychopathen, der eine eigene Firma leitet um Morde und Verbrechen zu koordinieren. Außer einer Freundin und Tochter, die jeden in ihrem Umfeld wegen der Identität ihres Mannes und teilweise auch wegen ihrer eigenen belügt. Bin ich eigentlich noch ein guter Mensch?
Man könnte jetzt sagen, dass ich mir darüber viel zu viele Gedanken mache, und dass ich doch eigentlich nichts dafür kann. Ich kann nichts für die Liebe. Aber meine Entscheidungen unterliegen meiner eigenen Verantwortung.
Nach einiger Zeit, ich weiß nicht wie viel genau, öffnet sich plötzlich die Tür zu Jims Büro. Erschrocken springe ich vom Stuhl hoch, doch es ist nur Seb der hereinkommt. Seine blonden Haare sind relativ kurz geschnitten und er hat sich wohl erst kürzlich rasiert. Er trägt eine Lederjacke und Jeans, ganz anders als die anderen Leute hier. Wahrscheinlich darf er das weil er Jims persönlicher Bodyguard und bester Freund ist. Und weil man als Sniper nicht zu sehr auffallen sollte.
"Hey, ich dachte ich schau mal vorbei", begrüßt er mich grinsend und ich atme auf.
"Und ich dachte für einen Moment es wäre irgendjemand, der eigentlich zu Jim will. Schön dich zu sehen."
"Keine Sorge, alle hüten sich hier rein zu kommen. Freut mich auch dich wiederzusehen, ist ja schon eine Weile her."
Er kommt zu mir herüber und setzt sich auf einen Stuhl, der vor dem Schreibtisch steht. Ich selbst lasse mich wieder in Jims Stuhl fallen.
"Wie geht's dir?", erkundige ich mich bei dem Sniper, wobei mir auffällt, dass wir tatsächlich schon seit Ewigkeiten nicht mehr miteinander gesprochen haben. Genaugenommen seit Irene Adler bei Jim und mir zu Hause war, und selbst da haben wir kaum ein Wort gewechselt. Eigentlich keins.
"Ganz gut, und dir?", antwortet er und ich wiege den Kopf hin und her.
"Schwer zu sagen. Hat Jim dir von meinem Vater erzählt? Oder von meinem Chef?"
"Er hat einige Male wütend vor sich hingemurmelt, aber er hat es mir nie richtig erklärt. Ich weiß nichtmal wie dein Vater so ist."
"Sam ist toll, wirklich. Allerdings hat er... Leukämie, es ist also sehr wahrscheinlich dass er bald stirbt. Es sei denn er lässt sich doch helfen. Und mein Chef... naja. Wir machen eine Beschwerde gegen ihn."
"Warte, warte. Dein Vater stirbt?!"
Seb runzelt die Stirn und beugt sich im Sitzen nach vorne. Anscheinend geht ihm das zu schnell.
"Er hat panische Angst vor Krankenhäusern und würde sich nur mit einem Knochenmark-Spender helfen lassen. Jetzt hoffe ich natürlich, dass sich ein passender Spender findet", erkläre ich ihm und er nickt.
"Das hoffe ich auch, für dich und für ihn. Und ich muss mal ein ernstes Wort mit deinem Ehemann sprechen, dass er mir so etwas vorenthält..."
"Apropos, wo ist der eigentlich gerade?"
"Außerhalb unterwegs, aber er hat mir aufgetragen, dir ein wenig Gesellschaft zu leisten. Zumindest bis ich zu meinem nächsten Auftrag aufbrechen soll, der darin besteht dieses Weibsstück abzuholen."
Er verzieht das Gesicht und ich muss lachen.
"Ach, du magst sie auch nicht?"
"Nein, überhaupt nicht. Hast du sie dir mal angeschaut? Wenn die den Raum betritt, hat man das Gefühl im Rotlichtviertel gelandet zu sein."
"Da kennt sich ja einer aus", necke ich ihn mit einem Zwinkern, bevor ich weiterrede.
"Naja, ich finde es jetzt nicht ganz so schlimm, allerdings verunsichert sie mich, und das mit Absicht."
"Jim ist jetzt auch nicht so begeistert von ihr, aber sie ist eine Klientin..."
"Und Klienten gehen vor, schon klar. Ich wünschte Jim würde weniger arbeiten."
Ich stütze meine Ellenbogen auf den Tisch und lege meinen Kopf auf die Hände. Seb schmunzelt nur.
"Ich fände es auch besser wenn er öfter mit dir etwas zusammen machen würde. Denn jedes Mal, wenn ihr beide die Nacht, wie soll ich sagen, zusammen verbracht habt, ist er äußerst gut gelaunt."
Augenblicklich erröte ich und Seb lacht.
"Hätte nicht gedacht dass man das so heftig merkt", murmele ich, da legt der Sniper den Kopf schief.
"Du musst ziemlich gut im Bett-"
"Ach hör auf, ich bekomme heute noch genug von sowas um die Ohren", unterbreche ich Seb und vergrabe das Gesicht in den Händen. Meine Wangen glühen förmlich vor Verlegenheit und auch Scham, denn es ist so peinlich mit Jims bestem Freund darüber zu reden. Vorallem mit der Erinnerung daran, was Irene Adler zu mir gesagt hat.
"Ach ja, du wirst ja dabei sein wenn Miss Adler herkommt", erinnert sich Seb und ich seufze gequält.
"Ich habe eh schon keine Lust mehr. Wie spät ist es überhaupt?"
"Zwanzig vor zehn. Ich muss in einer halben Stunde losfahren und in einer Stunde wollte Jim hier sein. Bis dahin wirst du dich noch gedulden müssen", meint er nach einem Blick auf die Uhr sowie einem entschuldigendem Schulterzucken.
"Immerhin kann ich mich mit dir unterhalten. Gibt es irgendetwas neues bei dir? Vielleicht sogar jemanden?"
Bei dieser Frage schmunzelt Set kurz, dann schüttelt er aber den Kopf.
"Nein, ich bin noch immer genau so langweilig und Single wie vorher."
"Ey, du bist doch nicht langweilig! Wenn das stimmt, dann bin ich die Queen."
"Bist du doch, du bist Jims Frau."
Damit bringt er mich zum lachen, einem Geräusch, das sicherlich äußerst selten innerhalb dieses Gebäudes, dieses Raumes, ertönt. Es ist schön dass Seb so locker mit mir umgehen und sogar über Jim als mein Mann reden kann, wo er doch in ihn verliebt war.
Der Sniper scheint zufrieden über seine Leistung zu sein, denn er lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Danach unterhalten wir uns noch weiter, bis es für Seb schließlich an der Zeit ist, aufzubrechen. Ich stehe auf und laufe um den Schreibtisch herum.
"Bis später, Großer", meine ich zu ihm während ich ihn zum Abschied umarme und er lacht.
"Das will ich doch hoffen, eure Majestät."
Ich strecke ihm die Zunge raus, dann geht er zur Tür und verlässt Jims Büro mit einem letzten Winken in meine Richtung. Kaum bin ich wieder alleine, kommt mir der Raum so unendlich still vor. Die Straße, viele Stockwerke unter mir, kann man nicht hören, wie auch, alle Fenster sind geschlossen. Die Aussicht auf London mag an sonnigen Tagen atemberaubend sein, aber heute ist es grau und alles andere als schön. Ich bezweifle sowieso dass Jim der Aussicht viel Aufmerksamkeit schenkt wenn er hier ist.
So langsam bekomme ich Durst, und ich muss noch etwa zwanzig Minuten warten bis ich überhaupt mit meinem Mann rechnen kann. Kurzerhand gehe ich ins Bad und trinke dort etwas Wasser. Als ich in den Spiegel schaue, muss ich feststellen dass ich aussehe, als würde hier bald einer begraben.
"Ich mache mir einfach viel zu viele Sorgen", murmele ich zu mir selbst und bemühe mich, freundlicher auszusehen. Oder wenigstens nicht so traurig.
Als ich fertig bin, gehe ich wieder zu Jims Schreibtisch, bleibe aber an der Fensterfront stehen. Von hier oben kann man als Punkte die Autos auf den Straßen erkennen, die sich zwischen den Häusern entlangziehen. Eigentlich ist es nichts besonderes, aber dennoch gibt es mir das Gefühl, ganz alleine zu sein. Alleine hoch oben, unerreichbar für jeden.
Plötzlich erkenne ich, dass auf einer Kreuzung wohl zwei Autos gegeneinander gefahren sind. Einfach so. Wie Spielzeug. Mit dem Unterschied, dass kein kleines Kind die Autos steuert und diese erheblichen Schaden davongetragen haben. Wie bei meiner Mum...
Auf einmal höre ich wie hinter mir die Tür geöffnet wird, doch ich drehe mich nicht um. Entweder ist es Jim und er ignoriert mich weiterhin, oder es ist jemand anderes, dann wird dieser schnell merken dass ich die falsche Person bin. Nun kommen Schritte auf mich zu, dann spüre ich plötzlich zwei Hände an meiner Taille und schnappe erschrocken nach Luft.
"Shh, ich bins", flüstert Jim an meinem Ohr und zieht mich enger an sich. Perplex bleibe ich stehen ohne einen einzigen Muskel zu rühren und starre auf die Fensterscheibe vor mir. Darin spiegelt sich schwach der Umriss von Jim und mir, vor den grauen Wolken Londons. Die Tatsache, dass sein geliebter Westwood bei dieser Umarmung zerknittert wird, scheint meinen Mann herzlich wenig zu interessieren.
"Jim, was machst du hier?", frage ich leise zurück während ich eine Hand auf seinen Unterarm lege.
"Ich hab dir doch gesagt, dass ich früher komme", antwortet er, da drehe ich mich zu ihm um.
"Nein Jim, ich meine was machst du hier? Ich dachte du würdest-"
Er unterbricht mich, indem er mir einen Finger auf die Lippen legt. Anders als heute Morgen wirkt er viel wärmer und liebevoller, auch seine Augen sind heller.
"Nur weil wir hier sind, heißt das doch nicht dass ich dich nicht umarmen darf."
Da schiebe ich ihn sanft von mir weg.
"Das habe ich auch nicht gesagt", beginne ich, doch dann gerate ich ins Stocken. Meine Hände liegen auf Jims Brust, doch für einen Moment nehme ich sie gar nicht wahr.
"Du hast befürchtet, ich würde dich heute den ganzen Tag ignorieren, oder?", erkundigt er sich und ich nicke. Was ich noch alles im Moment befürchte, sage ich ihm lieber nicht. Zumindest nicht jetzt.
"Hey."
Ich schaue ihn an, da neigt er den Kopf zur Seite und küsst mich sacht auf den Mund.
"Ich weiß dass ich furchtbar anstrengend sein kann."
"Mhm, besonders wenn du so eiskalt und unnahbar bist."
Daraufhin küsst er mich erneut, aber dieses Mal zieht er mich wieder enger an sich. Ich hätte niemals damit gerechnet dass Jim in seiner Firma so mit mir umgehen würde, selbst wenn wir alleine wären. Was er hier macht, überrascht mich mehr, als ich gedacht hätte.
Doch schließlich müssen wir uns voneinander lösen.
"Adler kommt bald, wir sollten schonmal in den Beratungsraum gehen", teilt Jim mir mit, dann nimmt er meine Hand. Gemeinsam durchqueren wir den Raum, und anders als gedacht, lässt er meine Hand nicht los sobald wir auf den Flur kommen. Es ist ihm egal was seine Angestellten von ihm denken, hauptsache sie befolgen Befehle. Trotzdem bin ich verwirrt. Und dieser Zustand wird noch eine Weile anhalten, denke ich.
DU LIEST GERADE
Moriarty In Love - The Game
Hayran KurguFortsetzung von "Moriarty In Love": "Es wird alles gut, Honey. Vertrau mir." "Das würde ich gerne Jim." Melody und Jim haben schon viel gemeinsam, und auch alleine, überstanden. Doch nun kommen neue Schwierigkeiten auf sie zu, und das nicht nur in i...