Kapitel 1

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Ich sitze im Klassenraum, den Blick starr nach vorne gerichtet. Mit den Fingern spiele ich an meinem kleinen Silberkettchen, das sich um mein Handgelenk ziert, herum. Die Tür schwingt auf und Herr Hieker, mein Klassenlehrer tritt ein. Hinter ihm folgt langsam und den Blick verlegen auf den Boden gerichtet, ein Junge, den ich noch nie zuvor gesehen habe.

Die anderen Mädchen beginnen sich zu ihren Freundinnen umzudrehen und tuscheln aufgeregt miteinander. Das Raunen hängt in der Luft. Nur ich bleibe still.

Ich sitze allein und ich halte es für unnötig meine Gedanken durch den ganzen Raum zu schreien, bloß damit meine Freundinnen es jetzt wissen. Ich kann es Ihnen genauso gut in der Pause erzählen.

Stattdessen mustere ich den Jungen aufmerksam von Oben bis Unten.
Längeres, lockiges, schwarzes Haar ist mit etwas Gel nach Oben gestylt und eine kleine Locke fällt ihm ins Gesicht. Er steht seitlich zur Klasse, sodass ich den perfekten Blick auf sein Profil habe.

Seine Kieferknochen zeichnen sich stark auf seinem markanten Gesicht ab und bilden eine scharfe Linie. Eine kleine, nahezu perfekte,gerade Nase hebt sich von seinem Gesicht ab und darunter befinden sich seine vollen Lippen, auf denen er nervös herum kaut. Dabei spannt sich sein Kiefer an, wobei er noch schärfer aussieht. Der Junge ist relativ muskulös gebaut, soweit ich es unter seinem großen grauen Hoodie erkennen kann.

Gedankenverloren blicke ich ihn an, da dreht er sich auf einmal um und unsere Blicke treffen sich. Ich fühle mich ertappt ihn beobachtet zu haben und spüre, wie mir alle Hitze ins Gesicht steigt. Vor Scham ducke ich mich und senke den Kopf, damit er mir nicht ins Gesicht sehen kann.

Ein energisches Räuspern reißt mich aus meiner Position. Herr Hieker steht vorne und versucht die Klasse zum Schweigen zu bringen. "Wenn ihr alle mal leise sein könntet", beginnt er ungeduldig. Das Geflüster verstummt. "Das ist euer neuer Mitschüler. Stellst du dich bitte vor?", fragt er den Jungen.

Der Junge blickt kurz zu Boden und holt tief Luft. Dann beginnt er mit fester und tiefer Stimme:" Hi, ich bin Jason. Ich bin sechzehn Jahre alt und gehe ab heute in eure Klasse." Er lächelt kurz in die Runde. Seine geraden, weißen Zähne blitzen auf und mir läuft ein Prickeln durch den Körper. "Danke, Jason. Du kannst dich", Herr Hieker deutet mit einer Kopfbewegung auf einen der freien Plätze,"dort hin setzen."

Mir bleibt der Mund offen stehen. Empörung braut sich tief in meinem Inneren auf und ich ziehe sauer die Augenbrauen zusammen. Warum soll er da sitzen? Neben mir ist doch auch frei!

Ich verschrenke die Arme und mir fällt auf, wie lächerlich das ganze doch ist. Herr Hieker hat ja keine Ahnung, wie interessant ich Jason finde und weiß auch nicht, dass ich gerne neben ihm sitzen würde, um ihn besser kennen zu lernen. Ich weiß ja selbst nicht einmal, was mich an ihm so sehr fasziniert.

Die ganze Geschichte ist so absurd, da ich quasi einen Freund habe. Wir stehen beide auf einander, aber haben es uns noch nie so richtig gesagt, aber wissen es beide, doch keiner von uns beiden traut sich den ersten Schritt zu machen. Ich würde mich eigentlich schon trauen, nur bin ich fest davon überzeugt, dass der Junge den ersten Schritt machen sollte.

Als endlich der Gong ertönt, schnappe ich mir meine schwarze Lederhandtasche und hänge sie mir schnell über die Schulter und verlasse zügig den Klassenraum. Als ich gerade zur Tür hinaus gehe, höre ich eine Stimme hinter mir.

"Ähm. Sorry, weißt du wo ich gleich hin muss?", fragt mich die Stimme und tippt mir auf die Schulter. Erschrocken fahre ich herum und erblicke leuchtende grüne Augen. Für einen Moment bin ich gefangen in diesen wunderschönen Augen, doch dann reiße ich den Kopf hoch und erinnere mich an die Frage.

"Achso ja klar", beginne ich nervös und ärgere mich innerlich total über mein dämliches Grinsen."Jetzt ist erstmal Pause. Da kannst du auf den Hof gehen oder dich in die Aula setzen. Aber ich glaube du kennst dich hier nicht aus, oder?", antworte ich schnell und wundere mich, warum meine Stimme auf einmal so seltsam hoch ist.

"Ja, das Stimmt", antwortet Jason. Ich ergreife die Chance ihn besser kennen zu lernen und schlage ganz nebenbei vor: "Wenn du willst kann ich dir alles zeigen." Jasons Augen leuchten erleichtert auf und lächelt mich dankbar an. "Danke."

Ich winke ab. "Ach, kein Problem." Im Gegenteil. Es ist mir eine Freude. Doch das behalte ich lieber für mich. Seite an Seite laufen wir durch die Schule und ich zeige ihm die Aula, den Hof, die Cafeteria, die Spinde und welche Wege am schnellsten wohin führen. Gemeinsam laufen wir lachend, über seine Scherze, durch das Schulgebäude.

Ich spüre wie sich eine Verbindung zwischen uns aufbaut. Etwas was ich noch nie zuvor gespürt habe. Es ist nicht das, was ich fühle, wenn ich mit Louis, meinem Schwarm, zusammen bin. Es ist eine Art Freundschaft, die sich in dieser kurzen Zeit gebildet hat, jedoch nicht so eine Art, wie mit den Mädchen aus meiner Klasse. Eine besondere Freundschaft, ich weiß nur noch nicht inwiefern.

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