Die fremde Stimme ertönte so unterwartet und so plötzlich, dass ich laut schrie und sofort hellwach war. Ich saß kerzengerade, mir flog mein Elefant aus dem Arm und ich hielt mir die Hand über das Herz, das blitzartig höllisch schnell pochte.
Erst nachdem ich mehrmals blinzelte, verstand ich, dass da ein Junge auf Jonathans Bett saß. Und er starrte mich genauso erschrocken an wie ich ihn. Seine Beine waren zu einem Schneidersitz verknotet.
Er sagte: „Das war eine unerwartet laute Reaktion."
Worauf mir ein zweites Mal bewusst wurde, dass dort wirklich ein Junge auf Jonathans Bett saß. Ich konnte meinen schnellen Atem noch nicht ganz normalisieren, auch nicht, als ich die Decke zurückschlug und meine Beine von der Matratze hängen ließ.
Ich musterte ihn. Er sah komisch aus. Ganz schwarze Kleidung und dunkles, lockiges Haar, das beinahe seine Augen verdeckte. Und er trug ein Armband, das unter seinem Ärmel hervorlugte. Es glänzte.
„Coole Haare", sprach er erneut einfach so, und das so laut, dass ich Angst bekam, mein Vater würde ihn hören. Mein Blick fiel zurück in sein Gesicht, womit er mich angrinste.
Doch trotzdem war mir unbehaglich und ich fasste mir ins kurze Haar. „Danke", gab ich das erste leise Wort zurück.
„Eigentlich können alle Mädchen kurze Haare tragen, aber du kannst es ganz beson- ..."
„Bist du ein Einbrecher?", unterbrach ich ihn.
Er blinzelte. „Sehe ich aus wie einer?"
„Ich weiß es nicht ... Ich glaube, schon."
„Was, wieso?"
„Du trägst schwarze Klamotten."
„Nur, weil du traurig bist."
„Weil ich traurig bin?", fragte ich unsicher nach.
„Klingt das plausibel?"
Ich zuckte mit den Schultern und fragte mich, was „plausibel" bedeuten mochte. Es herrschte kurze Stille, in der wir uns einfach nur ansahen. Bis ich sagte: „Also bist du kein Einbrecher?"
Schmunzelnd schüttelte er den Kopf. „Nein."
„Wer bist du?"
„Gute Frage."
„Und wieso bist du hier?"
„Weil du das so willst."
Nun war ich diejenige, die verwirrt blinzelte. „Aber ich will es nicht. Ich kenne dich nicht."
Das Lächeln des Jungen verschwand und er neigte ein wenig den Kopf. „Du bist ganz schön unfreundlich."
Ich spielte unwohl mit den Fingern in meinem Schoß. Ich wusste nicht, wie ich auf all das, was er sagte, reagieren sollte. Oder wie ich auf ihn reagieren sollte. „Das war nicht meine Absicht, aber das hier ist seltsam."
Er blickte mich nur fragend an.
„Ich denke, ich ... ich werde meinen Vater holen", sagte ich schließlich und stand auf.
Aus dem Augenwinkel erkannte ich, wie der Junge den Kopf entsetzt anhob. „Warte!" Er erhob sich ebenso und stolperte fast, weil er sich schnell aus dem Schneidersitz knoten musste. Mit erhobenen Händen stand er nun dort. „Du musst ihn nicht holen, du bist gar nicht so unfreundlich."
Zwischen uns herrschte weniger Abstand als zuvor. Ich konnte ihm geradewegs in die Augen blicken, was bedeutete, er war so groß wie ich. „Aber ich weiß doch nicht einmal wie du heißt", sagte ich.
„Wie würdest du mich denn gerne nennen?"
„Das ist eine merkwürdige Frage."
„Das ist ..." Er ließ Hände und Kopf erschlafft sinken und überlegte. Dann hob er den Finger und zeigte auf mein Bücherregal. „Such dir ein Buch aus, irgendeins, den ersten Namen, den du liest – das wird mein Name."
Ich fragte mich, was mich dazu brachte, tatsächlich zu meinem Regal zu gehen und mir ein Buch herauszusuchen. Ich kannte diesen fremden Jungen nicht. Ich sollte nach meinem Vater schreien und ihn bitten, aus meinem Zimmer zu jagen, weil er unerlaubt hier auftauchte und auf Jonathans Bett saß. Aber darüber dachte ich nicht, als ich die Rückseite eines Buches laß und verkündete: „Elizabeth."
Der Junge verzog unzufrieden das Gesicht. „Ich bin kein Mädchen."
„Aber das war der erste Name, den ..."
„Den nächsten Namen, los."
Also suchte ich weiter. Und sagte wieder: „Harry."
„Harry", wiederholte er und ließ sich nachdenklich zurück in Jonathans Bett fallen. „Harry, Harry, Harry. Ist das ein skurriler Name?"
Vorsichtig schob ich das Buch zurück und beobachtete ihn, wie er sich in den Schneidersitz setzte. „Viele Menschen heißen Harry."
„Magst du ihn?"
„Er hört sich nett an."
„Harry, Harry, Harry."
„Du bist komisch", stellte ich fest und setzte mich wieder leise auf meine Bettkante. Mein Vater durfte hiervon nichts mitbekommen.
„Wirklich?" Er hob die Brauen. „Warum?"
„Weil du einfach hier bist. Ich weiß noch immer nicht, warum."
„Das sagte ich dir doch schon. Weil du es so willst."
„Aber ich will ..."
„Du willst das nicht, ich weiß. Wenn du nicht willst, dass ich hier bin, dann hör auf, es zu wollen."
Ich runzelte die Stirn. „Was?"
„Du sorgst dafür, dass ich hier bin, niemand anders. Vielleicht will ich ja auch gar nicht hier sein, aber bin es, weil du es willst."
„Hä?"
Der Junge, also Harry, lachte. „Du bist witzig, Joline."
Mir stockte der Atem. „Woher kennst du meinen Namen?"
„Weil du ihn kennst."
„Aber ich habe ihn dir nie verraten."
„Ist nicht nötig, ich kenne alles, das du kennst."
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Ein wiiiirklich kurzes Kapitel, gerade zu Beginn der Story. Aber die Kopfschmerzen killen mich heute noch.
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The good nights I never had (abgebrochen)
Fanfiction"Es ist schwer, jemanden zu finden, mit dem du auf dieser Welt zusammen sein kannst. Da sind eine Menge schlimme Menschen dort draußen." Joline kennt den Unterschied zwischen alleine und einsam sein. Sie hat beides erlebt, beides gehasst, bei...