Überraschtes Aufeinandertreffen

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Am nächsten Morgen wachten wir mit Muskelkater in den Flügeln auf. Stöhnend hievte ich mich hoch und blinzelte in die Sonne. Sie stand schon relativ weit oben, wir mussten lange geschlafen haben.

Das Rauschen des Meeres an den Klippen erinnerte mich an Fisch. Und da bemerkte ich auch meinen zu großen Hunger.
"Nachtflug!", weckte ich meinen Bruder, "Los, wir müssen weiter üben."
Brummend drehte er sich auf die andere Seite, mit dem Rücken zu mir gewandt. Ich knurrte leise und musste mir was besseres einfallen lassen.

Aufgedreht nahm ich Anlauf und stürmte wild auf Nachtflug zu. Als er mein plötzliches Gewicht auf seinem Körper bemerkte, bäumte er sich sofort auf, sodass ich mit einem Überschlag auf den Boden knallte.

"Salir, lass mich schlafen!", knirschte er verärgert und legte sich wieder hin. Enttäuscht legte ich meine Ohren an und versuchte alleine das Fliegen zu lernen. Ich duckte mich, sank meinen Kopf, stellte die Beine breit und entfaltete meine Flügel. Mit einem kräftigen Ruck schnellten die Schwingen nach unten, die Spitzen peitschten noch den Boden und ich wurde in die Höhe katapultiert.

Das erstaunliche am Abheben war, dass man plötzlich so leicht war und die Flügel nun die ganze Arbeit übernahmen. Es war so komisch, sein Körpergewicht auf die Flügel und nicht auf die Beine zu verteilen. Auch waren beim Fliegen andere Muskeln tätig, die ich so noch nie groß genutzt hatte.

Aber aus meinem Flug wurde nichts, ich war so müde, so schlapp, ich konnte mich einfach nicht auf die Kraft und das Gleichgewicht konzentrieren. Mir gelang noch ein eleganter Bogen, ehe ich abstürzte.
Ich schrie vorwarnend auf, der Boden raste auf mich zu. In der letzten Sekunde kniff ich noch meine Augen zusammen, und rollte mich zu einer Kugel, sodass ich meinen Kopf schützte. Allerdings schleuderte mein Sturz mich noch bis hin zu Nachtflug. Ich prallte auf ihn drauf. Zischend sprang mein Bruder in die Höhe und fauchte mich an: "Sag mal, tickst du noch richtig? Geh weg, lass mich schlafen!"

Schockiert sah ich ihn mit großen Augen an, nachdem ich mich aufgerappelt hatte. Beschämt sank ich meine Flügel und machte kehrt. Mein Absturz war doch keine Absicht gewesen!

Von dem Rauschen des Meeres begleitet, ging ich die Küste entlang. Nachtflug ließ ich zurück, er brauchte sicherlich seine Ruhe. Andererseits konnten wir nicht mehr lange warten, wir mussten schnellstmöglich die Insel verlassen und unsere übrig gebliebene Familie finden.

Die rauen Felsen taten allmählich unter meinen Pfoten weh, sodass ich die Küste verlassen musste. Und das Gras, auf das ich später ging, war um einiges angenehmer. Ich hatte keine Ahnung wo lang ich ging, ich wollte einfach nur weg.

Plötzlich hörte ich das Knacksen eines zerbrochenen Zweiges. Erschrocken fuhr ich meinen Kopf nach oben und lauschte gespannt. Wild sah ich um mich um, wartend auf Gefahr. Hier durfte eigentlich niemand mehr sein, Nachtflug war auf der anderen Seite und ansonsten sind wir schon lange keinem weiteren Nachtschatten begegnet. Wer also war dann hier?

Nun hörte ich ein vorsichtiges Brummen. Es klang hell, es musste eine Drachendame sein.
"Wer ist da?", versuchte ich den Drachen zu locken. Glurren und Gebrummel erklang hinter hohen Gräsern, als ein weiblicher, ausgewachsener Nachtschatten langsam zu mir trat.

Unsicher musterte sie mich mit ihren tiefgrünen Augen. Die Farbe kam mir bekannt vor, doch ich wusste nicht von woher. Diese Augen erinnerten mich an jemanden, aber an wen?

Ich sank nervös meinen Kopf und wartete auf eine Reaktion der Drachendame. Ihre Nüstern bebten, ihre Augen glänzten, als stünde sie kurz vor dem Weinen.

"Entschuldige...", schluchzte sie höflich und verlegen, "Hast du mein Junges gesehen?"
Ich zuckte verwundert mit einem Ohr und sah die besorgte Mutter schräg an.
"Mein Sohn, er ist noch so klein! Schon seit einigen Tagen ist er weg... Es war doch so gefährlich und er sollte sich in unserer Höhle verstecken. Aber später war er nicht mehr da..."
"Wie sieht er aus?"
"Oh, er ist noch sehr klein. Knapp fünf Monate. Auffällig sind seine tiefgrünen Augen, die hat er nämlich von mir." Das Schluchzen der Mutter hatte nun etwas aufgehört und hoffnungsvoll sah sie mich an.

Das Aussehen des vermissten Kindes kam mir auffallend bekannt vor.
"Gut, und wie heißt er?"
"Mondregen."
Meine Augen hellten erleichtert auf.
Ich hatte die Mutter von Mondregen gefunden!

Ohnezahns LebensgeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt