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Mein Körper zittert. Vor meinen Augen nehme ich alles nur noch verschwommen wahr. Meine Ohren fühlen sich taub an, denn obwohl die Person, die etwas zu mir sagt, sich direkt neben mir befindet, kann ich die Worte nicht verstehen.

Das einzige Geräusch, das ich noch vernehme, ist meine eigene Atmung. Einzelne Tränen tropfen aus meinen Augenwinkeln.

Wie aus weiter Ferne spüre ich, dass sich zwei Arme um mich legen und hochheben. Wieder redet jemand mit mir, doch ich verstehe nicht, was gesagt wird.

Am Rande bekomme ich mit, wie wir einen Gang entlang gehen. Eine Treppe hinunter. Wieder einen Gang entlang.

Sanft werde ich auf einem Bett abgelegt und wie betäubt liege ich dort und starre ins Leere. Mir streicht jemand beruhigend durchs Haar. Dennoch liege ich lange so dort, in meine Gedanken versunken und trauernd.

Ich will, dass das alles nur ein böser Traum ist und ich endlich aufwache, doch dafür fühlt es sich zu real an. Innerlich hoffe ich, dass ich meine Familie bloß übersehen habe. Dass sie in einem Teil des Schiffes sind, den man nicht so genau durchsucht hatte.

Doch genauso gut weiß ich, dass diese Hoffnung vergebens ist. Über diese Gedanken brütend schlafe ich irgendwann ein.

Als ich aufwache, blinzle ich schlaftrunken in das Halbdunkel des Zimmers. Schemenhaft kann ich das Zimmer und seinen Inhalt erkennen.

Diese Kabine sieht genauso aus wie die, in der ich mit meiner Familie gewesen war. Die Balkontür neben dem Doppelbett. Auf der anderen Seite das Sofa, das bei uns allerdings ausgeklappt war. Der Schreibtisch gegenüber, der Schrank daneben.

Beim Aufrichten bemerke ich den blonden jungen Mann von gestern. Er liegt neben mir, die Augen geschlossen und friedlich schlummernd.

Ich betrachte ihn näher und frage mich, warum er bei mir geblieben ist. Doch aus welchen Gründen auch immer er das vielleicht gemacht hat, bin ich froh, dass ich nicht alleine bin.

In meinen Gedanken taucht die Erinnerung vom gestrigen Tag auf und in meinen Augen sammeln sich wieder Tränen. Es darf nicht so sein. Mit einem Schluchzen verkrieche ich mich unter der Decke und ersticke es damit.

Tränen quellen aus meinen Augen und das Kissen wird feucht. Nachdem mein Körper einige Male heftig von meinem Weinen durchgerüttelt worden ist, legt sich eine Hand auf meiner Schulter und streichelt sanft darüber.

Nach und nach lösen sich meine verkrampften Hände und hören auf, das Kissen zu zerknautschen. Mit einem Schniefen schaue ich hoch, direkt in das Gesicht des jungen Mannes mit den blonden Haaren.

Er wartet, bis ich mich wieder beruhigt habe und lächelt mich freundlich an. "Ist schon okay, lass es raus. Niemand erwartet von dir, dass du einfach darüber hinweg siehst."

"Wer bist du eigentlich?", frage ich neugierig und setze mich etwas aufrechter hin. Seine Hand gleitet von meiner Schulter und er legt sie auf sein Knie.

"Ich bin Thiemo. Und du bist...?"
"Claire", antworte ich ihm. Er nickt und steht anschließend auf, um sich zu räkeln. "Tut mir leid, wenn das beim Aufwachen etwas komisch für dich war, aber ich bin irgendwann einfach eingeschlafen", entschuldigt er sich.

Ich winke ab. "Keine Sorge, ist nicht so schlimm. Wem gehört das Zimmer hier eigentlich?" Seine Gesichtszüge, die zu einem leichten Lächeln verzogen waren, verändern sich merklich und mit einem Mal liegt ein trauriger Ausdruck in seinem Gesicht.

"Es hat meinen Eltern gehört", erklärt er, "aber die sind auch nicht mehr aufgetaucht." Betroffen senke ich den Blick und schäme mich fast, ihn danach gefragt zu haben.

Natürlich bin ich nicht die einzige Person, die ihre Familie nicht finden konnte. Dennoch hatte er mich getröstet und sich selbst seiner Trauer scheinbar nicht gewidmet.

"Entschuldige, dass ich dich so mit meinen Gefühlen belästige. Du hast bestimmt auch so genug am Hals", sage ich und lasse den Kopf hängen.

Thiemo ist mit zwei schnellen Schritten bei mir und hebt meinen Kopf wieder an. Ich blicke in zwei wunderschöne schokoladenfarbige Augen. "Sag so etwas nie wieder!"

Erschrocken schaue ich ihn an und nicke eifrig. Einen Moment lang schauen wir uns noch an, bevor er mein Kinn wieder loslässt. Verwirrt über sein seltsames Verhalten schweige ich und schaue mich unsicher um.

"Sollen wir mal schauen, ob du in deine Kabine kommst? Dann kannst du dir etwas anderes anziehen", schlägt er vor und mir fällt ein, dass ich immer noch das weiße Kleid trage. Inzwischen ist es zwar getrocknet, allerdings fühlt es sich ein wenig seltsam an.

"Ja, das wäre nett", stimme ich also zu und gemeinsam begeben wir uns zu der Kabine. Da mein Vater den Schlüssel eingesteckt hatte, stehen wir vor verschlossener Tür und können nur hilflos rütteln.

Seufzend wende ich mich ab. "Ist schon gut. Dann behalte ich das hier halt an."

Ein Knall lässt mich wieder herumfahren. Thiemo hat sich mit voller Wucht gegen die Tür geschmissen. "Lass das, du tust dir noch weh!", rufe ich panisch und packe ihn an der Schulter.

"Was ist denn hier für ein Lärm?", fragt eine Stimme hinter uns und wir fahren herum. "Entschuldigen Sie, aber dieses Mädchen hat hier ihre Sachen drin, nur leider ist der Schlüssel mitsamt Familie verschwunden", kommt Thiemo mir mit einer Erklärung zuvor.

Sofort werden die Züge des Mannes weicher. Er kramt in seiner Tasche und holt schließlich einen Schlüssel hervor, mit dem er die Türe öffnet. "Universalschlüssel", erklärt er auf meinen fragenden Blick hin.

Ich bedanke mich und betrete die Kabine. Alles sieht noch genauso aus, wie an dem Morgen der Schwärze.

"Pack am besten deine Sachen in einen Koffer. Es ist unwahrscheinlich, dass die uns einen Schlüssel geben. Wir finden eine andere Unterkunft für dich."

Stumm nicke ich. Ich merke, wie sich meine Augen wieder mit Tränen füllen. "Kannst du mich etwas alleine lassen?", frage ich mit erstickter Stimme. "Klar." Er drückt mir einen Schlüssel in die Hand. "Bring deine Sachen einfach in die Kabine von vorhin."

Seine Schritte werden leiser, bis sie schließlich gar nicht mehr zu hören sind. Ich gebe der Tür einen Stups und sie fällt zu. Die Stille umfängt mich auf eine gespenstische Art und Weise.

Zögerlich betrachte ich die Habseligkeiten meiner Familie. Auf dem Bett meines Bruders sitzt sein Stoffhase. Ich nehme ihn an mich und drücke ihn fest.

Ansonsten sind kaum persönliche Gegenstände vorhanden. Mein eigenes Notizbuch, die Kette meiner Mutter. Wir hatten kaum Sachen außer der Kleidung mitgenommen.

Ich nehme mir einen der Koffer und packe meine Kleidung zusammen, während Tränen meine Wangen hinunter laufen.

Zusätzlich packe ich mir einen Pulli meiner Mutter und eine Jacke meines Vaters ein. Oben drauf passt so gerade eben noch der Stoffhase. Ich schließe den Koffer und ziehe ihn hinter mir her zur Tür. Dort bleibe ich stehen und schaue durch den Raum.

Ohne den Stoffhasen und mein Notizbuch wirkt dieser Raum sehr unpersönlich. Mein Blick bleibt an der Kette meiner Mutter hängen und kurz darauf hängt sie um meinen Hals. Dann verlasse ich schweren Herzens die Kabine und ziehe die Türe hinter mir zu.

Es klickt leise und ich spüre, wie eine kleine Last von mir fällt. Auch wenn die Trauer über den Verlust sich immer noch messerscharf in mein Herz bohrt, fühlt es sich an, als könnte ich sie in diesem Raum einschließen.

Mit jedem Meter, mit dem ich mich von der Kabine entferne, wird mein Schritt ein wenig leichter und die Tränen fließen weniger.

Ich schwöre mir, diese Etage nur noch im Notfall zu betreten und mich ansonsten von ihr fernzuhalten.

Als ich im Jahr 2974 erwachteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt