Kapitel 1

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Gleich geschieht es wieder, ich kann es spüren. Ein Kribbeln in meinem Nacken, das Gefühl, das alles um mich herum in immer weitere Ferne rückt, kalte Schweißperlen auf meiner Stirn- ich kenne die Anzeichen und weiß, das bedeutet nichts Gutes.
Ich hefte den Blick auf meine Füße, folge Liria aus dem U-Bahnhof Tower Hill hinaus in den hellen Sonnenschein und versuche, mich ganz auf meine Schuhe zu konzentrieren, die sich Schritt für Schritt über den tadellos sauberen Bürgersteig bewegen. Aber es ist, als seien sie weit fort, kein Teil von mir, sondern einfach ein Paar violette Converse Größe neununddreißig, das zu irgendjemand anderem gehört.

Hastig nehme ich die Kopfhörer ab. Mein Herz hämmert wie wild und ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Ich schüttle den Kopf, will dem Unvermeidlichen entgehen, nicht hineingezogen werden in was auch immer mich dieses Mal erwartet. Krampfhaft versuche ich, die Kontrolle zu behalten, doch schon spüre ich, wie mir alles entgleitet. Ich schnappte nach Luft, als eine Welle von Bildern und Gefühlen über mir hereinbricht, mich verschlingt und alles andere auslöscht.

Die Menschen in der Menge drängen sich so dicht heran, dass ihr warmer, übel riechender Atem sich mit dem meinen vermengt- einige der Gesichter sind wutverzerrt, entstellt von der Gier nach Blut. Ich weiche zurück, will umkehren, aber man hält mich fest an den Ellbogen gepackt und zieht mich weiter, so heftig, dass meine hübschen, neuen Seidenschuhe kaum den feuchten, schlammigen Boden berühren. Obwohl ich den Hügel nicht länger sehen kann, rieche ich den Rauch der Feuer und höre, wie die Verurteilten zu Gott flehen. Der metallische Geruch von Blut erfüllt die Luft. Mit wachsender Panik suchen meine Augen in der Menge der Gefangenen verzweifelt nach Avan, doch man zerrt mich immer weiter, hinunter zum Wasser und fort von dem Hügel, wo ich ihn zuletzt sah-

>Hey!< Meine Schwester schnippt vor meinem Gesicht mit den Fingern und holt mich in die Realität zurück. >Saphira!< Ich blinzele, starre sie an und versuche, meine Gedanken von dem, was ich gerade gesehen und gefühlt habe, loszureißen. Immer noch rieche ich beißenden Rauch und versuche angestrengt, mir klarzumachen, dass ich zurück in der Realität bin. Ich trage kein langes Samtkleid und keine zarten, seidenen Schuhe, sondern die üblichen Jeans und meine Sneakers. Alles ist normal. Ich bin nicht dabei, durchzudrehen.

>Was ist denn?< frage ich und versuche möglichst genervt zu klingen, um meinen inneren Aufruhr zu verbergen. Ich muss diese Träume oder Halluzinationen in den Griff bekommen. Mein Magen rebelliert, ich möchte mich übergeben, um das, was da in mir sitzt, herauszuwürgen, damit diese Visionen aufhören. >Langsam glaube ich, das du dich mit mir ziemlich langweilst< sagt Liria, während ihre perfekt manikürten Daumen über ihr Handy hüpfen.

Ich nehme einen Schluck meiner Wasserflasche, bemüht, das Zittern meiner Hände zu verbergen. Liria hat noch nichts bemerkt, aber wenn ich in Tränen ausbrechen oder mich in den nächsten Mülleimer übergebe, wird sich das garantiert schnell ändern. Ich zerbreche mir den Kopf, um für das, was mit mir geschieht, eine logische Erklärung zu finden, denn tief in mir spüre ich, dass es immer schlimmer wird. Seit wir in London angekommen sind, begegnen mir immer wieder kleinere Dinge, die mir merkwürdig vertraut erscheinen, beinahe so, als sei ich zurückgekehrt- an einen Ort, an dem ich niemals zuvor gewesen bin.

Wir laufen durch die Stadt und tun, was alle Touristen so tun, kommen an einem alten Haus vorbei, einem Schaufenster oder an einer schmalen, kopfsteingepflasterten Gasse, und plötzlich überfällt mich ein so heftiges Déjà-vu, das ich stehen bleibe und versuche, eine passende Erinnerung zu diesen unerklärlichen Gefühl zu finden. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite erheben sich düster die dunklen Mauern des Tower of London, aber keiner der Menschen auf dem dicht bevölkerten Gehweg scheint die Verzweiflung und den Wahnsinn zu spüren, die diesen Ort umgeben. Wahrscheinlich, weil alle anderen nicht verrückt sind.

Ich trinke noch einen Schluck, aber das Wasser ist warm und schmeckt metallisch, nicht besonders erfrischend. >Sorry. War nur in Gedanken<, bringe ich raus, und endlich lässt das Gefühl von schmerzlichen Verlust mich los und alles ist wieder klar wie nach einem heftigen Regenguss. Ich schalte die Musik ab und an ihre Stelle tritt das Summen der Reifen auf der viel befahrenen Straße. Ich versuche es mit einer Erklärung, die selbst in meinen Ohren klug klingt. >Das Konzert und das ganze Drumherum. Ist ja nicht mehr lange hin.< >Kannst du nicht einmal mit der Wunderkind-Nummer aufhören?<, nörgelt Liria. >Schließlich haben wir Ferien.< >Vielleicht hast DU Ferien<, gebe ich zurück und weiß schon, während ich spreche, das ich mir das besser gespart hätte, aber ich bin so durcheinander, dass ich einfach automatisch wiederhole, was ich schon oft gesagt habe. >Die anderen zählen auf mich. Ich kann mir nicht aussuchen, ob ich üben will oder nicht.<

Ich bemühe mich, ruhiger zu atmen und zu signalisieren, dass alles okay ist. Dann schlage ich meinen eselohrigen Reiseführer auf und konzentriere mich auf den beruhigenden Anblick der Karten und Fotos von Sehenswürdigkeiten, während ich versuche, die sonderbaren Gefühle endgültig abzuschütteln und wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

Ich lasse meinen Blick über die Leute auf der Straße schweifen und versuche, zu entspannen, sage mir, dass niemand mich anstarrt, dass ich einfach eine von vielen leicht desorientierten Touristinnen mit einem Reiseführer in der Hand und einem Rucksack über der Schulter bin. Ich bin unsichtbar, außer wenn ich mit einem Cello auf der Bühne stehe. Was immer das eben war, es ist endlich vorüber.

SAPHIRAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt