Sie stand allein in der Mitte des überfüllten Raums, erhöht, von einer Menschenmenge umgeben, die ihr mehr oder weniger offensichtlich an den Lippen hing. Ihr mittelbraunes Haar war zu zwei Zöpfen geflochten, die vorn auf ihren Schultern ruhten; sie trug ein kleines, schwarzes Kleid und mit Kirschen bedruckte Sneakers. Die vollen Lippen hatte sie sich kirschrot geschminkt, die leuchtend blauen Augen mit dunklem Eyeliner umrahmt. Trotzdem wirkte sie irgendwie unschuldig.
In der rechten Hand hielt sie einen roten Plastikbecher, in der linken ein kabelloses Mikrofon, das sie nun langsam von ihren Lippen sinken ließ. Leichtfüßig sprang sie von dem umgestürzten Bananenkarton, der als Podest diente, und sah sich suchend um, vom Applaus ihres Publikums vollkommen unbeeindruckt.
„Wer ist der nächste?", fragte sie mit trotz des Alkohols klarer Stimme. Ein kleineres, blondiertes Mädchen, das ich nicht erkannte, löste sich aus der Menge und nahm ihr das Mikrofon ab.
Vor Enttäuschung hätte ich fast geseufzt, und ich wusste, dass es jedem anderen im Raum genauso ging. Alle hätten lieber sie singen gehört, sie mit ihrer hellen, klaren Engelsstimme, doch genau wie ich wollte es niemand zeigen.
Während das blonde Mädchen zu singen begann, stellte mein Mädchen ihren Plastikbecher auf einem der vielen über den Partykeller verteilten weißen Tische ab und bahnte sich einen Weg zwischen den Gästen hindurch zum Ausgang, die Stirn leicht gerunzelt.
Ohne groß nachzudenken erhob ich mich von dem abgenutzten, braunen Ledersofa, auf dem ich zuvor gesessen hatte, und zwängte mich zur Tür hindurch, ihr hinterher. „Hey, Clark!", rief jemand hinter mir mich beim Nachnamen, doch ich ignorierte ihn. Schnell schlüpfte ich durch die weiße Kellertür hindurch in den Eingangsbereich der Tür, eine graue Betontreppe im Hinterhof des Hauses, in dem die Party stattfand. Sie führte zum Garten, und ich sprang die Stufen hinauf und blickte mich nach ihr um.
Und da saß sie, allein im Gras, am anderen Ende des Gartens, die Arme fest um sich selbst geschlungen. So leise wie möglich, um sie nicht in ihren Gedanken zu stören, durchquerte ich den Garten, um zu ihr zu gelangen. Das Mondlicht ließ die Sträucher und Pflanzen, die den geplasterten Weg durch die Mitte der Rasenfläche säumten, blau-schwarz, schon fast geisterhaft wirken. Als ich neben ihr zum stehen kam, bemerkte ich, dass sie am Ufer eines kleinen Bachs saß, der zwischen diesem und dem Nachbargarten hindurchfloss, wie eine natürliche Grenze. Hinter uns zog sich eine ordentliche Linie von gestutzten Buchsbäumen quer durch den Garten, der uns vom Geschehen dahinter abschnitt. Die laute Musik aus dem Haus drang nicht bis hierher, und so war es still, bis auf unseren Atem und das beständige Gluckern des Baches. Es war, als gäbe es nur uns zwei auf dieser Welt.
Nach einer Weile ließ ich mich neben sie ins hohe Gras sinken. Sie sah mich nicht an, sonder zog lediglich ihre Knie noch näher an sich heran, verstärkte ihren Griff um sie. Ich machte keine Anstalten, sie anzusprechen, denn sie vermittelte mir das starke Gefühl, dass ich sie jetzt auf keinen Fall bedrängen sollte.
Irgendwann, es fühlte sich an wie eine kleine Ewigkeit, drehte sie ihren Kopf so, dass sie mich betrachten konnte, und ließ ihn auf ihren Knien ruhen. „Hey", begrüßte sie mich leise. „Hey", erwiderte ich in der gleichen Lautstärke. Einen Moment sah sie mir nur stumm in die Augen, doch ich fühlte mich nicht bedrückt, wie sonst, wenn jemand das tat. Es war so, als würde sie mich nicht ansehen, sondern in mich hineinsehen, als könnte sie dort meine Gedanken und Gefühle ablesen. Wie aus einem offenen Buch, sagte man. Ich begann, die Redensart zu verstehen.
„Wieso bist du mir gefolgt, Toby?", fragte sie dann, ohne ihre Augen von meinen zu lösen. Die Dunkelheit verschluckte jede Farbe in ihnen, sie wirkten beinahe schwarz, doch immer noch genau so lebendig.
Ich dachte einen Moment über ihre Frage nach. Warum? Natürlich war ich neugierig, wollte wissen, was sie zum Gehen bewegt hatte, doch der wirkliche Grund war etwas anderes...
„Ich wollte dich nicht allein lassen, so wie du aussahst...", ich hielt inne, suchte nach besseren Worten, um meine Gefühle zum Ausdruck zu bringen. „Du sahst aus, als würdest du jemanden brauchen, der dir folgt", beendete ich den Satz, dessen Bedeutung erst ein wenig später bei mir einsank.
Ihre Augen weiteten sich ein wenig, doch ihren Ausdruck konnte ich nicht deuten. War es Überraschung? Vielleicht sogar Wut? Angespannt wartete ich auf eine Antwort.
Sie löste ihren Blick von mir und hob ihren Kopf, um stattdessen den Bach anzusehen. Dann begann sie, zu sprechen. „Ich bin nie wirklich allein, weißt du?", setzte sie zögernd an. Langsam, bedacht löste sie die Arme von ihren Knien und streckte ihre Beine aus; die Ellenbogen stützte sie ins Gras. In dieser Haltung wirkte sie nicht mehr so verschlossen und abwehrend wie zuvor, sondern offener, verletzlicher. Als würde sie mir vertrauen.
Es folgte eine weitere Pause, doch ich sagte nichts, denn ich wusste, wie schwer es ihr viel, über sich selbst zu reden. „Ich werde nie von den anderen in Ruhe gelassen", erklärte sie, „Ständig erwartet irgendjemand, dass ich mit ihnen shoppen oder zum bowlen oder ins Kino gehe oder zu ihrer dummen Karaoke-Party komme. Und wenn ich mal zuhause bin, darf ich mich auch nicht ausruhen, nein, dann schreibt mich wieder jemand an und fragt, ob er vorbeikommen kann. Ich habe es so satt, dass niemand daran denkt, wie es mir geht. Alle fragen mich um Rat, doch wenn es mir mal schlecht geht, ist keiner da. Alle wollen etwas mit mir unternehmen, aber dass ich vielleicht auch mal Zeit für mich haben will, daran denkt natürlich keiner! Warum denn auch, warum sollte ich allein sein wollen, wo ich doch so viele Freunde habe?" Sie lachte bitter. „Wenn man es denn Freunde nennen kann."
Ich wollte etwas sagen, etwas passendes, etwas kluges und verständnisvolles, doch mir fiel nichts ein. Bisher war es mir gar nicht in den Sinn gekommen, dass sie jemanden zum reden braucht. Es sah doch immer so aus, als würden sich alle nur um sie kümmern, wie hätte ich es denn auch wissen können?
„Du kannst immer, wirklich immer mit mir reden", sagte ich schließlich, und ich meinte es so ernst, wie ich noch nie ein Versprechen in meinem Leben gemeint hatte. „Und wenn du allein sein willst, dann sei es doch einfach!"
Verwundert sah sie mich wieder an, die Augen nun eindeutig vor Erstaunen geweitet.
„Wie meinst du das?", fragte sie. Ihr roter Lippenstift glänzte im Mondlicht.
„Wenn du keine Lust auf jemanden hast, dann sag es doch einfach", erklärte ich ihr, „Und wenn du einmal keine Zeit hast oder nichts machen willst, sag einfach ab! Es wird dir keiner übel nehmen, wenn du einfach mal zeigst, das du Zeit für dich brauchst. Das braucht doch jeder mal." Der letzte Satz kam weich über meine Lippen, viel weicher und verständnisvoller, als ich es geplant hatte.
Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, während sie zu mir hochsah.
„Zeit verschwenden macht am meisten Spaß, wenn man keine hat, Sarah."
Ihr Lächeln wich nun einem breiten Grinsen.
„Frühstück morgen mit Kathy?", schlug sie vor und biss sich auf die Lippe, als wolle sie ihr Grinsen in Schach halten.
„Abblasen!", rief ich, fast ein wenig zu laut, und sie lachte auf. „Und Café mit Linda?"
„ Das kannst du auch verschieben", lächelte ich, und sie legte lachend ihren Kopf in den Nacken.
„Und dämliche Karaoke-Party heute Abend?", fragte sie, ihre Augen funkelten verschmitzt.
„Einfach abhauen", antwortete ich, nun ein wenig ernster. Auch aus ihrem Gesicht verschwand das Lachen, machte einem abenteuerlustigen Ausdruck Platz, vermischt mit etwas anderem.
Sie legte den Kopf schief. „Einfach so?"
Ich stand auf und klopfte mir die Jeans ab, dann hielt ich ihr meine Hand hin, die sie sofort ergriff und sich von mir hochziehen ließ. „Einfach so", bestätigte ich und sah ihr dabei direkt in die Augen.
Dann trat ich einen Schritt zurück und ihre kleine, weiche Hand entglitt meiner. Erwartungsvoll blickte sie mich an und schürzte die Lippen, als sich wieder ein Lächeln auf ihnen breit machen wollte.
„Komm", forderte ich sie auf, und sie stellte sich neben mich und ließ ihre Hand zurück in meine schlüpfen. Ich umschloss sie sofort.
„Wohin?", wollte sie wissen, den Kopf schief in den Nacken gelegt, um mir ins Gesicht sehen zu können. Ich lächelte auf sie hinab.
„Wohin auch immer du willst."
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Kirschrot
Short Story„Wohin?", wollte sie wissen, den Kopf schief in den Nacken gelegt, um mir ins Gesicht sehen zu können. Ich lächelte auf sie hinab. „Wohin auch immer du willst."