Nietzsches Peitsche

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"Weiblichkeit ist so eng mit Arbeit und Verdinglichung verbunden, dass die Merkmale des Geschlechts auf dem Arbeitsmarkt ge- und verkauft werden können. Insofern gefährdet jede Frau, die sich von den Mechanismen der Frauenverachtung befreien möchte, ihr sozial konstruiertes Geschlecht. Warum sonst werden Feministinnen in der öffentlichen Vorstellung so konsequent entsexualisiert? Feminismus wird als Bedrohung für die Weiblichkeit dargestellt, während er letztlich doch eine Bedrohung für das Geschlecht als Arbeitskapital ist..."

Es klopfte an Noams Tür und ihr Vater trat herein. Zerstreut schaute Noam von ihrem Buch, 'Fleischmarkt' von Laurie Penny, auf und nahm erst nach einem Moment ihren Vater wahr. In der Hand hielt sie einen gelben Textmarker.

"Du hast da Farbe.", er deutete auf ihre Wange.

"Bist du deswegen hier oder ist sonst noch irgendwas?", Noam wischte sich mit dem Handrücken über die Wange.

Ihr Vater räusperte sich: " Deine Mutter hat gekocht. Kommst du bitte?"

Seufzend legte Noam das Buch aus der Hand. Ihr Vater warf einen mißtrauischen Blick darauf.

"Liest du schon wieder diesen Emanzenquatsch? Du solltest lieber gute Literatur lesen.", bemerkte er während sie gemeinsam die Treppe hinunter gingen.

"Ach? Was denn zum Beispiel? Nietzsche und so?"

"Zum Beispiel.", ihr Vater schien den spöttischen Tonfall in ihrer Stimme nicht gehört zu haben.

Noam blieb stehen und deklamierte laut:"Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht."

"Ich bitte dich."

"Aus 'Also sprach Zarathustra'. Ich zitiere bloss.", schmunzelte Noam.

"Hüte deine Zunge, Kind. Nietzsche war ein grosser Mann. Absolut löblich.", sagte ihr Vater stirnrunzelnd, während er sich an den gedeckten Tisch setzte.

"Mit einer nicht ganz löblichen Einstellung zu Gleichberechtigung.", Noam verzichtete darauf, ihren Vater zu fragen, ob er überhaupt schon mal etwas von Nietzsche gelesen hatte.

Sie ließen von dem Thema ab. Noams Mutter kam aus der Küche mit einem dampfenden Auflauf. Als sie sich gerade gesetzt hatte, fragte Noams Vater sie: "Holst du mir bitte noch ein Bier?".

Sofort sprang Noams Mutter wieder auf und lief in die Küche. Noam, die gerade ziemlich auf Konfrontationskurs war, fragte ihn: "Wieso holst du es dir eigentlich nicht selbst? Du hast doch auch Beine."

In scharfem Tonfall bemerkte ihr Vater: "Ich habe den ganzen Tag gearbeitet um euer Leben zu finanzieren. Da ist es wohl nicht zu viel verlangt, wenn ich abends ein kleines Bier möchte. Übrigens bin ich der einzige hier der arbeitet"

Noam lachte spöttisch: "Stimmt, weil Hausarbeit ja keine Arbeit ist, nicht wahr? Das ist gerade total unfair, Mutti gegenüber."

Ihr Vater wollte gerade zum Gegenschlag ausholen, als Noams Mutter ihm sein Bier vor die Nase stellte.

"Bitte, keinen Streit. Mir zuliebe. Eduard, wie war dein Tag?"

Noams Vater liess sich besänftigen und erzählte von seinem "schrecklich anstrengenden" Bürotag.

Noam schwieg genervt, ihrer Mutter zuliebe, weil sie wusste, wie viel ihrer Mutter am Hausfrieden lag. Sie ärgerte sich über ihren Vater mit seinem altmodisch- patriarchalen Weltbild und über ihre Mutter, die sich das alles einfach so gefallen ließ. Sie wollte etwas unternehmen dagegen, nur was?! Sie fühlte sich machtlos. Verärgert stocherte sie eine Weile in ihrem Auflauf herum. Schließlich sprach ihre Mutter sie an: "Du hast heute noch nicht besonders viel geübt. Was ist denn los? Du hast doch nächste Woche dieses Konzert in der Schule. Geh noch üben."

Genervt stand Noam auf. "Erstens habe ich heute mehr als zwei Stunden am Stück geübt. Zweitens wäre ich ohnehin gleich nochmal gegangen. Und drittens muss ich mich auch noch auf mein Abi vorbereiten."

Sie trug ihren Teller zur Spüle und ging verärgert zur Tür hinaus.

Kurz darauf hörte man wütend schnelle Läufe aus dem Nebenzimmer. Nach und nach beruhigten sie sich und gingen über in traurige, filigrane, hohe Harmonien.

Meine Welt-mein Klavier?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt