»Oh Mist! Achtung, Karton im Anflug!«
Chloes Warnruf reißt mich aus meinen Gedanken. Verwirrt drehe
ich mich zu ihr um und beobachte mit aufgerissenen Augen, wie der Umzugskarton mit meinen Büchern die Treppe hinunter purzelt, bis er schließlich mit einem lauten Knall auf dem Boden landet. Darauf folgt ein erschrockener Schrei.
Meine Mutter erscheint vor der Treppe. Die Hand hält sie über ihr Herz, als müsste sie kontrollieren, ob es noch schlägt.
»Chloe«, sagt sie und hebt mahnend den Zeigefinger, »Wenn du
nochmal einen Karton nach mir wirfst, muss ich dich bitten, dieses Haus zu verlassen.«»Alles klar, Frau Dietrich«, sagt Chloe und flieht in mein Zimmer, bevor meine Mutter doch noch die Zeit findet, ihr eine Predigt, über die richtige Art einen Karton nach unten zu transportieren, zu halten. Doch sie schüttelt nur mit geschürzten Lippen den Kopf und geht, um weitere Dinge einzupacken.
Ich sprinte die Treppe hinab und werfe erst einen Blick in den Karton,
um zu kontrollieren, ob es meinen Büchern gut geht, bevor ich ihn nach draußen zu den anderen trage.Zurück in meinem leeren Zimmer finde ich Chloe auf dem Boden
sitzend vor. Den Blick auf ein kleines Buch geheftet. Kurz bin ich etwas gereizt, da ich es hasse, wenn jemand ungefragt an meine Sachen geht – auch wenn es sich um meine beste Freundin handelt. Chloe bemerkt mich, grinst und hält das Buch hoch.»Du bist einfach wunderschön«, sagt sie mit einem breiten, übertriebenen Grinsen auf den Lippen. Das Buch ist ein Fotoalbum, das ich vor ein paar Jahren gebastelt habe. Jeder von uns besitzt eine Ausgabe. Die Seite, die sie aufgeschlagen hat, zeigt ein Foto von meinem herangezoomten Gesicht, das mich wirklich nicht von meiner Schokoladenseite zeigt.
Ich schnaube. »Na vielen Dank auch.« Ich nehme das Buch und setze
mich neben sie. Stumm, was sonst gar nicht Chloes Art ist, blättern wir gemeinsam das Fotoalbum durch.Fünf Jahre unserer Freundschaft lassen wir Revue passieren. Und als wir bei der letzten Seite angelangt sind, will ich das Buch gar nicht zuschlagen. Es kommt mir so endgültig vor.
»Wir sollten einen zweiten Teil machen«, sage ich in die Stille.
»Noch haben wir nicht genug Fotos.« Sie nimmt das Album, schließt es und legt es in einen Karton neben ihr. »Aber irgendwann werden wir genug haben.« Ihr Blick liegt auf mir, so ernst wie nur selten.
Mein Herz zieht sich schmerzvoll zusammen, wenn ich an den Umzug am morgigen Tag denke. Ich werfe ihr ein wehmütiges Lächeln zu. »Was soll ich nur ohne dich machen? Ich vermisse dich jetzt schon.«
»Mich wirst du nicht los, Nina. Eilburg ist ja nur ein paar Kilometer
entfernt.« Chloe zwinkert mir zu, während ich sie mit hochgezogenen Augenbrauen anblicke.Eilburg ist im Vergleich zu Hoyersheim eine riesige Stadt, was auch daran liegen könnte, dass Hoyersheim wirklich eine winzige Kleinstadt ist. Ohne Chloe bin ich da verloren.
»Ein paar Kilometer? Es sind ganze 53,8 Kilometer!« Seufzend lasse ich mich nach hinten sinken und stoße mir dabei fast den Kopf an einem herumstehenden Karton. Diese Zahl spukt nun schon seit zwei Monaten in meinem Kopf herum. Seit meine Eltern mir die glorreiche Nachricht überbracht haben, dass wir nach Eilburg ziehen werden. Damit werde ich Chloe, meine einzige und beste Freundin, verlassen müssen und mein Magen zieht sich jetzt schon zusammen, wenn ich an meine neue Schule denke. Angeborene Schüchternheit wird mir das Leben dort schwer machen.
»Du musst es ja wissen«, sagt Chloe und klingt nachdenklich.
Nach ein paar Minuten, die ich dazu nutze, mir die schlimmsten Szenarien auszumalen, sagt sie: »Sieh es doch mal positiv. Ein paar Dinge wirst du auf jeden Fall nicht vermissen.«
Ich drehe meinen Kopf zu ihr. »Ach, ja?«
Sie schnappt sich ein Kissen von meinem Bett und legt sich dann neben mich auf den Bauch. »Ja. Zum Beispiel die Kaugummis unter den Schultischen.«
Angeekelt verziehe ich das Gesicht. Die werde ich sicher nicht vermissen, allerdings werden unter den Tischen in Eilburg bestimmt auch Kaugummis kleben.
»Oder die schrecklichen Busverbindungen. Glaub mir, bald hast du kaum noch Probleme mit Bus und Bahn. Uuuund.« Sie zieht das Wort besonders lang und kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Erwartungsvoll hebe ich die Augenbrauen. »Und Partnerarbeiten mit Liam Schwartz.«
Ein tiefer Seufzer entfährt mir, der Chloe sofort ein Lachen entlockt. Als meine engste Vertraute weiß sie am besten, welche Folter diese Partnerarbeiten jedes Mal für mich sind. Sie führen immer zu Schweißausbrüchen und zitternden Knien.
Liam Schwartz ist ein Junge aus unserer Klasse und wohl die arroganteste Person, die ich kenne. Niemals lässt er sich dazu herab, mit mir zu sprechen oder unsere Aufgaben zu machen. Um ehrlich zu sein, spreche ich ihn auch nie an, da ich mich in seiner Nähe unwohl fühle. Leider kann ich ihn nicht mal als hässlich beschimpfen. Im Fußball soll er ein echtes Ass sein, sagt man sich, und so ist sein Körper gut gebaut. Doch sein grauenvoller Charakter verdirbt sein Aussehen. Es mag zwar oberflächlich von mir sein, ihn zu verurteilen, wenn man bedenkt, dass ich ihn kaum kenne, aber bei seinem Verhalten kann ich nicht anders. Das Einzige an ihm, was ich bewundernswert finde, ist die Tatsache, dass es ihn nicht zu stören scheint, ein Einzelgänger in unserer Klasse zu sein. Nein, er will es sogar. Für mich wäre die Schule ohne Chloe die reinste Qual.
»Die vermisse ich sicher nicht«, sage ich und atme schnaubend aus, was Chloe erneut zum Lachen bringt. Auch wenn sie sich mir zuliebe von ihm ferngehalten hat, weiß ich, dass sie Liam als Bad Boy interessant und aufregend findet. Er hat es geschafft eine geheimnisvolle Aura um sich aufzubauen, die sie nur zu gern ergründen würde – ohne mich.
Seufzend erhebe ich mich. Zwei Kartons warten noch darauf gefüllt zu werden. Chloe und ich machen uns an die Arbeit. Und mit jedem Gegenstand, der in den Kartons landet, verliert mein Zimmer ein bisschen etwas von dem, was es zu meinem Zimmer gemacht hat.
Schließlich sind die Kartons gefüllt, die Schränke sind leer und die Herzen schwer. Jeder von uns nimmt so viel er tragen kann. Wir werfen uns einen Blick zu und obwohl Chloe selten sprachlos ist, sehe ich ihr an, dass sie die Schwere des Abschieds spürt. Wir gehen hinaus und ich ziehe die Tür meines nun leeren Zimmers hinter uns zu.
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Gefesselt ans Leben (Leseprobe)
Teen Fiction~ Als Taschenbuch und E-Book bei BoD, Amazon und Thalia erhältlich ~ »Ich hab's mir nicht ausgesucht zu überleben. Und jetzt sitze ich hier, gefesselt an diesen beschissenen Rollstuhl. Gefesselt an dieses scheiß Leben.« Ninas Leben ist ruhig und geo...