Fruchtgummibrühe

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Das Blatt vor Noams Augen verschwamm. Sie riss sich zusammen. Der Test sah nicht gut aus. Äusserst leer und die Zeit war beinahe um. Nun ja, wenigstens hatte sie es bald hinter sich. Noam schaute sich ein letztes Mal die Aufgaben an, dann gab sie es endgültig auf und fing an, mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln. In ihrem Kopf spielte sie ein Lied. Den türkischen Marsch. Dabadabadam, dabadabadam... Noam lächelte. Sie hatte das Lied schon lange nicht mehr gespielt. In ihrem Kopf machte sie sich eine Notiz, es zu spielen. Ihr Kopf war voll Musik. Sie schreckte auf, als ihr Mathelehrer ihr mit der Hand vor den Augen hin und her fuhr.

"Die Zeit ist um, Abgabe bitte.", schnarrte er. Rasch legte Noam ihren leeren Test auf einen Stapel anderer Tests, raffte ihre Sachen zusammen und verließ rasch das Zimmer. Draussen wartete schon Chris. Er schlürfte seelenruhig einen Energydrink. Um neun Uhr morgens. Geschmacksrichtung 'cherry-berry'. Es schüttelte Noam. Chris grinste schief und fragte: "Na? Versaut oder verkackt?"

Noam lachte laut und schnarrte dann mit der typisch nasalen Stimme ihres Mathelehrers:

"Solch unschickliche Worte, Christopher, verbitte ich mir entschieden. Sollten Sie sich allerdings weiterhin eines solch unflätigen Vokabulars bedienen, sehe ich mich gezwungen, Ihnen Ihre Fruchtgummibrühe ins Gesicht zu schütten."

Sie lachten beide. "Fruchtgummibrühe?", fragte Chris.

"Riecht doch genau so. Nach aufgelösten Gummibärchen. Das entzieht sich meinem Verständnis wirklich, wie man so etwas trinken kann. Und dazu noch am Morgen früh.", Noam schüttelte den Kopf.

Chris nahm, wie um sie zu ärgern abermals einen grossen Schluck und verkündete: "Also wenn dem Hansen sein Deutsch auch nur halb so hochgestochen wäre wie das, das du gerade gesprochen hast, würde ich vielleicht sogar zuhören in Mathe."

Noam lachte und schlug ihm sachte auf den Hinterkopf.

"Übrigens...", sagte sie, als sie in ihrer Bank sassen, "Es gibt morgen eine Demo von der NOB. Gegen die Zuwanderung und die 'Islamisierung'...", sie machte mit ihren Fingern Häkchen in die Luft.

Chris unterbrach sie: "Muss man die kennen?"

Noam schaute ihn halb überrascht an. "Die NOB? Aber von der redet man doch dauernd in den Zeitungen und Nachrichten... Das ist die 'Bewegung National orientierter Bürger'. Totale Faschos. Auf jeden Fall gibt es eine Gegendemo um die gleiche Zeit. Kommst du mit mir da hin?"

Chris blinzelte sie an. "Faschos?", fragte er ratlos.

Noam rollte genervt die Augen. "Faschisten, Rechtsradikale, nenn sie wie du willst. Weisst du wenigstens was rechts und links ist?"

"Du meinst das mit der Politik und den Nazis und so?"

Noam seufzte. "Ich denke, du meinst das Richtige. Kommst du jetzt mit mir da hin?"

Chris, der sich inzwischen einen Kaugummi in den Mund gesteckt hatte, machte eine Blase, liess sie platzen und sagte schließlich: "Nö."

"Warum nicht?", Noam war enttäuscht, aber so leicht wollte sie sich nicht zufriedengeben.

Chris guckte sie an und erklärte gemütlich: "Erstens interessiert es mich nicht, zweitens kann ich in der Zeit viel bessere Sachen machen und drittens kann man ja eh nichts ausrichten.", er ließ eine weitere Kaugummiblase platzen.

"Ja aber...", setzte Noam an, "so darf man doch nicht denken. Wenn alle so denken würden wie du würden die Menschen noch in Höhlen hausen. Die Leute von dieser Bewegung haben vorige Woche ein Asylzentrum angezündet. Ist dir das wirklich egal?"

Chris war langsam gelangweilt. Er fing an, auf seinem Stuhl zu wippen. "Naja, solange die mein Haus nicht anzünden..."

Noam starrte ihn an. "Wie kannst du nur so gleichgültig sein?!"

Sie wandte sich ab, da ihr bewusst wurde, dass Chris seine Meinung nicht ändern würde und dass er sich auch nicht weiter mit dem Thema befassen würde. In dem Moment klingelte es und die Stunde begann. "Bonjour tout le monde.", begann ihre Französischlehrerin beschwingt und obwohl Noam Französisch nicht leiden konnte, schaute sie die ganze Stunde lang kein einziges Mal zu Chris hinüber. Als die Stunde zu Ende war, packte sie schnell all ihre Sachen und verschwand. Sie ging hinaus, hinter das Schulgebäude und setzte sich auf eine kleine Bank. Ihr war gerade bewusst geworden, dass ihre Freunde allesamt total desinteressiert vom Weltgeschehen und der Politik waren. Und sie, sie wollte doch etwas tun! Sie wollte sich für ihre politische Meinung engagieren. Sie wollte helfen, die Menschen zu einen. Sie wollte helfen, dass es allen gut ging und nicht nur ihnen. Sie wollte so vieles... Aber wie denn, ganz alleine? Frustriert kickte sie einen Stein fort und beschloss, die nächste Stunde sausen zu lassen und dafür Klavier spielen zu gehen in einem der Proberäume, die die Schule zur Verfügung stellte. Um Chemie war es nun wirklich nicht schade. Und um Chris?

Meine Welt-mein Klavier?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt