Als Sie ihre Augen aufschlug, nahm Sie ihre gewohnte Umgebung etwas verschwommen, aber dennoch klar identifizierend wahr. Ein fröstelndes Gefühl schlich sich durch ihren Körper. Erst gestern war Sie noch in der Versuchung der Realität zu entkommen, allerdings ohne suizidale Absichten. Und jetzt war Sie in den Fängen ihrer eigenen Person, in ihrem eigenen Körper. Metaphorisch ans Bett gefesselt und gesundheitlich nicht dazu in der Lage, sich von ihrer Gedankenwelt abzulenken. Dennoch kristallisierte sich für Sie eine weitere Gemeinsamkeit zwischen der Wirkung des Schnees und der Wirkung der Realität heraus. Beides machte sie krank.
Ihr Körper war in einer unüberwindbaren Müdigkeit gefangen. Unfähig auch nur ein Gliedmaß zu bewegen, riss ihr Geist Sie erneut in einen Tiefschlaf, der Sie in eine Traumwelt entführte.
Sein Äußeres war eher an einen Punk angelehnt. Er hatte Tattoos, blaue Haare und seine Kleidung war dunkel. Er gab mir ein Gefühl, dass mir noch nie zuvor jemand geben konnte. Die Harmonie zwischen uns war unglaublich. Er war fast so etwas wie ein Seelenverwandter für mich, falls ein solcher Mensch existierte. Dennoch gab es einige wesentliche Unterschiede in unseren Verhaltensweisen, die allerdings kaum von Bedeutung waren. Ich habe diese Person noch nie zuvor gesehen, bis sie wie aus dem Nichts vor mir aufgetaucht war, und nun bezeichnete ich sie als die Liebe meines Lebens. Wir wollten gemeinsam auf ein Konzert von seiner Lieblingsband, dessen Musik ich ebenfalls als sehr gut empfand. Er bestand darauf, dass ich diese Musik einmal live erlebe. Einen Tag vor diesem lang ersehnten Konzert geschah das, was sonst nur in schlechten Dramen passiert. Er verließ überraschend diese Welt. Krebs, den er vor mir geheim hielt. Er selbst wusste also, dass er bald sterben würde.
Ein Gefühl der Leere durchströmte meinen gesamten Körper, mein Kopf schien zu explodieren und einige Momente der Ungläubigkeit und Verzweiflung ließen mich fast wahnsinnig werden. Jedoch entschied ich dennoch zu dem Konzert zu gehen. Ich war mir sicher, dass er das so gewollt hätte. Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit, als ich mit ein paar Freunden zum Konzert ging. In den ersten Minuten nach Beginn des Konzerts nahm ich die Musik unglaublich intensiv wahr. Sie schien meinen Körper und meine Seele vollständig übernommen zu haben und meine Gedankenwelt frei zu räumen, fast so, also würde sie mich in eine völlig fremde Welt schweben lassen. Dieser Zustand war jedoch nicht von langer Dauer. Ich dachte daran, wie es sein würde, wenn er noch bei mir wäre. Wenn er neben mir stehen würde und mich anlächeln würde. Wenn er den Text laut mitsingen würde. Wenn er dieses intensive Gefühl ebenfalls miterleben könnte. Alles in meinem Kopf drehte sich, bis ich schließlich, völlig überrumpelt von meinen Gefühlen, das Konzert verließ.
Ich saß auf dem Fensterbrett in meinem Zimmer. In der Hand hielt ich einen noch verschlossenen Brief, den er mir kurz vor seinem Tod schreib und mir zukommen ließ. Mit zitterigen Händen und Tränen in den Augen öffnete ich nach einigen Minuten der Unsicherheit den Briefumschlag. Ich zog das Papier heraus und legte den Umschlag vor mir ab. Normalerweise hätte ich ihn einfach in irgendeine Ecke geschmissen und nach einigen Wochen beim Aufräumen eventuell gefunden, um ihn anschließend wegzuschmeißen. Doch bei diesem hier war es anders. Mein Herz begann, stark gegen meinen Brustkorb zu hämmern, fast so, als würde es diesen jeden Moment durchbrechen wollen. Ich faltete das Papier auseinander und bei dem Anblick des Inneren spürte ich, wie sich erneut Tränen den Weg über meine Wange bahnten. Ich wischte mir mit dem Ärmel meines Pullovers über die Augen.
Seine Stimme klang schwach und brüchig bei jedem Wort, das ich las, in meinem Kopf mit. Jeder Satz berührte mich mehr als alles andere es jemals getan hatte und der Schmerz verankerte sich tief in meinem Herzen. Er schrieb über wundervolle Erlebnisse, davon wie leid ihm alles tut und wie sehr er mich liebte. Jeder seiner Sätze versetzte mir einen Stich ins Herz und ein unglaubliches Gefühlschaos machte sich in mir breit. Diese Gefühle der Trauer, der Leere und des Verlustes ließen mich nicht los. Es schien, als hätten diese Emotionen einen Schleier um mich gelegt, aus dem ich nie entfliehen konnte.
Ein tiefer Atemzug befreite Sie schlussendlich aus dieser Einbildung. Die Gefühle, die Sie im Traum verspürte, übertrugen sich ebenfalls auf die Realität. Genau diese Gefühle klammerten sich nach dem Aufwachen an Sie. Dagegen ankämpfen schien zwecklos. Sie ließ es zu, erlaubte den Tränen zu entkommen und versuchte ihrer Erschütterung einfach freien Lauf zu lassen. Sie zitterte am ganzen Körper, den Blick hatte Sie starr an die Decke gerichtet. Selbst das Klopfen an ihrer Zimmertür holte Sie nicht aus ihrer Trance. Erst als sich ihre Mutter durch den Türspalt schob begrub Sie jeden Hauch von Emotionen unter ihrer nichtssagenden Fassade.
"Tia, ist alles ok? Ich habe beunruhigende Ger.."
"Geh' raus!" unterbrach Tia ihre Mutter, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Diese ließ ihren Blick langsam über ihre Tochter gleiten. War das wirklich ihr Werk? Das sollte keinenfalls böse klingen, aber wann ist ihre Tochter so unantastbar geworden? Wann verlor sie die Nähe, die Vertrautheit, den Draht so dermaßen zu ihr? Sie hielt das Ende des Drahts fest doch was bringt all dies, wenn am anderen Ende niemand steht? Wenn man sich nur auf der Stelle bewegt?
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Souls & Clouds
Teen Fiction"Kälter als diese Welt konnte der Schnee nicht sein." Nach dem Tod ihrer besten Freundin scheint Tias Leben noch sinnloser, als es so schon war. Die verschiedensten Eindrücke brennen sich in ihren Kopf, Menschen hinterlassen dort ihre Fußspuren und...