Weiß

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"Wenn du glücklich wärst, wärst du nicht hier"

Lease, an die er den Satz gerichtet hat, fragt sich zugleich, wo dieses 'hier' denn eigentlich ist. Sie kennt den Ort, die Straße, das Haus, den Sessel - in dem sie gerade sitzt - schon viel zu gut, kann sich darin aber immer noch nicht finden.

"Wie gesagt, ich bin nicht hier, weil ich mir selbst zu traurig bin, sondern weil ich für die Leute da draußen zu glücklich bin. Das Glück liegt wie schimmernder Glitzer auf meiner Haut, klebt wie zähes Pech an meinen Händen. Ich habe das Gefühl, dass ich Leute in meiner Nähe damit förmlich verklebe. Sie haben mich hierhergeschickt, weil sie damit nicht zurechtkommen. Dabei sind sie bloß neidisch."

Ein wortloses, lautes Schweigen folgt, das sich in die Lücke der unausgesprochenen Wörter setzt, sie aber nicht füllen kann. Sie starrt die weiße Wand an.

"Ich habe kein Recht darauf, verstehen Sie? Ich meine, ich hab' doch alles. Eine Familie, ein Dach über'm Kopf, ich muss nicht hungern, habe gute Noten." Sie schaut ihn an, schüttelt den Kopf. "Sie verstehen nicht"

Ein verzweifeltes Grinsen legt sich über ihr Gesicht und Tränen steigen ihr in die Augen. Sie sieht viel glücklicher aus, als sie es ist.

"Du denkst was zu sehen, was du nicht wirklich siehst, Lease."

Ihre erste Träne rollt. Sie sieht sie als 'weiße' Träne, als den Frieden mit sich selbst. Er sieht sie als das, was sie wirklich ist.  Den Block mit den Stift vor sich legt er zur Seite.

Das Problem mit seiner Patientin ist, dass es offensichtlich ist, dass sie fällt, sie selbst aber immer noch denkt, sie fliegt.

So viele bunte Farben #DreamAward2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt