Ich liege auf dem rauen Asphalt und blicke in den Himmel, der mir in diesem Augenblick so viel schöner erscheint als je zuvor. Mir ist etwas kalt, aber es stört mich nicht. Es ist eine angenehme Kälte. Ich höre irgendwo einen Specht klopfen, mein Atem gleicht sich dem Rhythmus an. Der Vogel trommelt - ich atme ein. Der Vogel ruht - ich atme aus. Das Geräusch erinnert mich stark an meine Kindheit. Oft hatte ich meinem Vater versteckt zugesehen, wie er die Zimmertür von Mark mit Brettern zugenagelt hatte. Und oft war ich es, der hinter einer zugenagelten Tür stand. Es kam vor, dass er uns tagelang nicht hinaus ließ. Die Dunkelheit, die dann im Raum herrschte, brachte einen um den Verstand. Lediglich der kleine Spalt zwischen zwei Brettern, die über dem Fenster angebracht waren, spendete ein wenig Licht. Und durch diesen winzigen Spalt schob uns unser Erzeuger zwei Mal am Tag einen Gartenschlauch durch, damit wir etwas tranken.
Ich spüre wie sich meine Brust zusammenzieht und beiße mir vor Schmerz auf meine Unterlippe. Der Specht klopft wieder und ich versinke abermals gegen meinen Willen in der Vergangenheit.
Ich kann mich daran erinnern was ich gefühlt hatte, als ich hören konnte, wie die Bretter langsam entfernt wurden. Was Mark mit ziemlicher Sicherheit auch gefühlt hatte. Es war weder Erleichterung, noch Freude. Sondern pure Angst. In diesem Moment betete ich zu Gott, obwohl ich streng genommen nicht an ihn glaubte. Welcher Gott würde schließlich einem Monster wie meinem Vater das Recht geben weiterzuleben, während es meiner Mutter verwehrt wurde? Also betete ich fest, bat ihn darum, mich zu meiner geliebten Mutter zu bringen. Er tat es aber nicht. Weil es ihn nicht gab. Und so betrat mein Vater das Zimmer, mit einem Ausdruck in den Augen, den ich nie deuten konnte. Meine kindliche Naivität ließ mich anfangs glauben es wäre Reue. Ich brauchte aber nicht allzu lange um zu sehen, dass es keine Reue war. Vielleicht war es Schadenfreude, oder einfach nur Bösartigkeit. Was es auch war, es machte mir riesige Angst und es geschah nicht selten, dass mich die Angst so sehr lähmte, dass ich mich weder bewegen noch sprechen konnte.
"Bist du zur Vernunft gekommen, Sohn?", war seine allererste Frage die er uns immer stellte. Und auf diese Frage gab es nur eine richtige Antwort. Nein.
Denn alles andere hätte ihn nicht zufriedengestellt. Also kam er auf mich zu, ich nicht imstande wegzulaufen oder mich zu wehren. Vater schnappte sich meinen Arm und drückte so fest zu, dass ich ihn kurzzeitig nicht mehr fühlen konnte. Wie immer hielt ich meine Tränen zurück, denn das hätte ihn nur noch mehr verärgert. Wir verließen mein Zimmer und ich konnte Mark sehen, der sich in dem Wandschrank versteckte in dem ich mich auch immer versteckt und zugesehen hatte. Ich konnte deutlich sehen, dass er weinte. Er war mein Bruder und wir liebten uns sehr. Denn ich war sein Halt und er meiner, obwohl er erst elf und somit drei Jahre jünger war als ich. Vater ging mit mir in den Keller, schloss wie gewohnt die Tür hinter uns ab und ich wartete darauf, die Tortur endlich hinter mich zu bringen. Er setzte mich auf einen Stuhl, er selbst nahm gegenüber platz. Dann zog er eine Zigarre aus seiner Hosentasche, zündete sie an und beobachtete mich mit einem Grinsen im Gesicht, während er den Rauch auspustete. Er genoss es so sehr uns zu quälen, dass ich manchmal sogar deutlich eine Erektion sehen konnte. Vater stand auf und ich versuchte mich auf den Schmerz, der mich erwartete, vorzubereiten. Ich schloss meine Augen, konnte vernehmen wir er näherkam. Konnte seinen Geruch wahrnehmen, seinen Atem hören. Er schnaubte und ich war mir sicher, dass er wieder erregt war. Langsam blies er mir den Rauch in mein Gesicht und mit einem Mal durchfuhr ein brennender Schmerz meinen rechten Unterarm. Ich stöhnte auf und konnte nicht mehr verhindern, dass eine große Träne meine Wange hinunterlief. Erschrocken hielt ich die Luft an, hoffend, er würde sie nicht sehen. Und wieder betete ich, diesmal um ein Wunder. Und tatsächlich wurde ich erhört. Jemand klingelte an unserer Haustür und mein Vater hielt in seiner Bewegung inne. Er atmete schnell und stoßweise, nahm dann eine Rolle Klebeband von einem Regal und überklebte damit meinen Mund. Er wusste zwar genauso wie ich, dass das nicht nötig war, da ich niemals den Mut gehabt hätte zu schreien, aber er wollte sich wohl absichern.
Ich öffne meine Augen und merke, dass ich tatsächlich weine. Der Himmel, der vor kurzem noch dunkelblau war, hat sich in ein helles schwarz verwandelt. Der Vogel ist nicht mehr zu hören, bis auf ein paar vereinzelte leise Stimmen ist es gänzlich still. Meine Augen schließen sich von selbst, Müdigkeit überkommt mich. Nach und nach kehren die unliebsamen Erinnerungen zurück.
Mein Vater stieg die Stufen hoch und warf mir noch einen kalten Blick zu, ehe er den Keller verließ. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen brach ich in Tränen aus. Angst, Schmerz und Verzweiflung ließen mich zusammenbrechen, es war ausweglos.
Helfen Sie uns, er tut uns weh!
Mein Kopf schnellte in die Höhe und mein Magen verkrampfte sich. Marks Stimme hallte durch das ganze Haus und es war, als würde sich der Satz in mein Gehirn einbrennen. Weitere Tränen flossen über meine Wangen und hinterließen eine salzige Spur hinter sich. Ein unerwarteter Schuss und lautes Poltern waren über mir zu hören. Ich lauschte der plötzlichen Stille, versuchte, so leise wie möglich zu atmen. Die Kellertür wurde mit einem Ruck aufgemacht und krachte gegen die Mauer. Abermals fing ich an zu weinen, ängstlich wartete ich darauf, dass mein Vater seine Folter fortsetzte und mich vielleicht sogar tötete. Er stieg die Stufen hinunter, ganz langsam.
Da ist tatsächlich ein Kind, Wayne. Ruf die Cops!
Ich öffnete mein linkes Auge, blickte in ein mir fremdes Gesicht und öffnete das rechte. Ein älterer Herr lief auf mich zu, über seiner Schulter trug er ein Jagdgewehr. Er kniete sich vor mich und sah mich mit einem mitleidigen Blick an, der mir sagte 'Es ist vorbei'.
Ein erneuter Schmerz durchfährt meine Brust, diesmal stärker und länger. Mein Mund ist trocken und ich versuche Speichel zu sammeln, was mir nicht gelingt. Meine Lider sind schwer und meine Augen schließen sich wieder.
Mark und ich wurden von einem Krankenwagen abgeholt, vor unserem Haus versammelte sich ein Dutzend Polizisten. Nach unzähligen Befragungen im Krankenhaus wurde ich nach vier Tagen entlassen, Mark musste aufgrund seiner schwereren Verletzungen weiterhin behandelt werden. Eine Frau aus dem Jugendheim holte mich ab und brachte mich in mein neues zu Hause. Meinen kleinen Bruder zu besuchen wurde mir verweigert, stattdessen versprachen sie mir ihn zu sehen, sobald er entlassen würde. Doch das Versprechen wurde nie eingehalten, Mark hatte ich nicht wieder gesehen. Vier Jahre verbrachte ich im Heim, jeden Tag an die Hoffnung geklammert, jemand würde mir ein Foto von ihm geben oder mir zumindest sagen, dass es ihm gut ging. Mit achtzehn packte ich meine Sachen und ging, ohne mich umzudrehen, ohne jemals wieder einen Gedanken an diese Zeit zu verschwenden. Doch immer noch mit der Hoffnung, meinen kleinen Bruder, das Wichtigste in meinem Leben, wiederzusehen. Die Jahre vergingen und ich rutschte immer tiefer in ein schwarzes Loch. Depressionen, Drogen und Kriminalitäten hatten mich fest in der Hand und ich konnte mich nicht losreißen. Aber ich hatte einen Ersatz für meinen Bruder gefunden. In einer Gang hatte ich das gewonnen, was ich mit Mark verloren hatte – Verständnis, Loyalität und Halt. Sie waren zu meiner Ersatzfamilie geworden. Irgendwann, es kam ganz unverhofft, zog ich mit der Gang durch die Straßen. Wir alberten herum, zogen uns einen Joint nach dem anderen rein und trafen dann plötzlich auf die 'Golden Skulls', eine verfeindete Gang, deren Mitglieder allesamt Asiaten waren. Alle außer einem. Er war weiß und stand ganz hinten. Ich hatte ihn gleich erkannt, niemand sonst auf der Welt konnte die gleichen Brandmale auf den Unterarmen aufweisen, wie Mark und ich. Es hatte mir einen Stich verpasst ihn zu sehen, nach so langer Zeit. Und ich musste mir eingestehen, dass ich ihn beinahe vergessen hatte. Auch er starrte mich an, aber ich erblickte keine Freude oder Überraschung in seinen Augen, sondern Wut. Er hasste mich, ich konnte es ihm ansehen. Und diese Tatsache verpasste mir einen weiteren Stich. Doch ich konnte es ihm nicht verdenken. Ich hatte ihn nie wirklich gesucht und aufgegeben, bevor ich es überhaupt versucht hatte. Jetzt aber wollte ich zu ihm gehen, ihn in meine Arme schließen und ihn fragen, wie es ihm die letzten Jahre ergangen ist. So viele Fragen stellten sich in meinem Kopf, so viele Antworten musste ich ihm geben. Und plötzlich, ohne Vorwarnung, zog er eine Waffe. Er zielte und er drückte ohne groß nachzudenken ab. Ich sank zu Boden, nahm wahr, wie weitere Schüsse abgegeben wurden, konnte aber nicht deuten aus welcher Richtung. Und mit einem Mal war es ruhig. Wie damals, als unser Erzeuger von dem Jäger erschossen wurde, nachdem er versucht hatte, ihm seine Waffe zu entreißen. Nun liege ich hier, Blut fließt aus meiner Wunde und ich höre jemanden schwer atmen. Der Himmel ist nun gänzlich schwarz, Sterne sind hier und da zu erkennen.
„Matt.“, nehme ich eine krächzende Stimme war. Eine Träne fließt über meine rechte Wange. „Mark?“ Mein Bruder lacht kurz auf und ringt dann nach Luft. Auch ich merke, wie mich die Kräfte verlassen. Das Atmen fällt mir zunehmend schwerer, mein Körper wird leichter. Ich schließe meine Augen, ich bin müde.
„Matt. Freust du dich auf Mum?“