Kapitel 4

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Ich sehe Patschhände, die Smartphones in Glitzerhüllen umklammert halten. Ich sehe dickliche Finger und lädierten Glitzernagellack.

„He, voll lustig, wir haben dich schon vorhin gesehen!", erklärt das Mädchen, das beim genaueren Hinsehen kein Mädchen mehr ist. 

Oh, wow. Von diesem Satz werden sich noch Menschengenerationen nach uns erzählen. 

Ein Blick zu meinem Sitznachbar verrät mir, dass er nicht sonderlich erfreut ist. Er hebt fragend die Augenbrauen, lächelt gequält und richtet sich auf. Dabei sticht mir sein graues Shirt von Bruce Springsteen ins Auge und ich beiße mir unwillkürlich auf die Unterlippe. Als wäre das nicht schon schlimm genug, prangt auch noch der Schriftzug The River auf seiner Brust. 

Wie sehr habe ich es geliebt, neben Daniel im Auto zu sitzen und dieses Lied lauthals mitzusingen? Früher trällerte ich es so gedankenlos und glücklich, weil ich seine Bedeutung nicht verstand. Heute jedoch zuckt mein Herz bei jedem Wort zusammen. "Is a dream a lie, if it don't come true? Or is it something worse, that sends me down to the river, though I know the river is dry?" 

Ich stehe kurzentschlossen auf und streiche den Stoff meiner Bluse glatt, bevor ich den Kopf hebe.

„Darf ich?"

Zwei wässrige Augenpaare richten sich auf mich – anklagend, denn für den Bruchteil einer Sekunde versperre ich ihnen die Sicht.

Mit einem entschuldigenden Lächeln drückte ich mich an ihnen vorbei und gehe langsam den engen Gang entlang in Richtung Cockpit. Mein Gleichgewichtssinn ist nicht der beste, war er noch nie, und so strauchle ich bei jedem noch so kleinen Schlingern der Maschine. Es muss für Außenstehende so aussehen als wäre ich stockbesoffen.

Schließlich erreiche ich unbeschadet die Tür der Bordtoilette und werde sofort von einer überschminkten Stewardess begrüßt. Eine schwere Parfümwolke umgibt sie und ich kräusele die Nase, weil tausend Duftmoleküle darin kitzeln.

In der Kabine stelle ich mich vor den Spiegel und atme tief durch. Das grünliche Licht ist nicht unbedingt schmeichelhaft: ich sehe furchtbar abgekämpft aus. Aber wen wundert's? 

Die ganze Zeit habe ich mich zusammengerissen. Zum Glück war es am Flughafen so hektisch, dass ich überhaupt nicht auf die Idee kam, auch nur einen einzigen Gedanken an Daniel zu verschwenden. Doch gerade eben, als ich dieses verdammte Shirt gesehen habe, wurde mir schlagartig bewusst, dass ich hier völlig alleine bin und dass Daniel eigentlich neben mir hätte sitzen sollen. Gerade kämpfen Wut und Traurigkeit in meiner Brust. Ich kneife die Lippen zusammen und straffe die Schultern.

„Zoë!", richte ich die Worte an mich selbst und wedle mit dem Zeigefinger vor meinem Spiegelbild herum. „Du spazierst einfach in den nächsten Pub und angelst dir dort einen Colin Farrell, der ist nämlich Ire, oder einen Ronan Keating", ich halte inne und schüttele kichernd den Kopf. „Ne, keinen Ronan Keating. Auf gar keinen Fall. Dann lieber diesen River-Paddy."

Nachdem ich mich ausreichend selbst erheitert habe, trete ich zurück in den Passagierraum.

„Thank you", flötet die Stewardess und ich frage mich kurzzeitig ernsthaft, wofür sie sich bei mir bedankt, bis mir klar wird, dass es einfach zu ihrem Job gehört, sich selbst für Toilettengänge in affektierter Freundlichkeit zu bedanken.

Mein Blick fliegt über die Köpfe und bleibt bei drei Menschen hängen, die nebeneinander im Gang stehen und sich mit einem Handy fotografieren. Die Mädchen von vorhin haben meinen Sitznachbarn in ihre Mitte genommen.

Ich ziehe spöttisch die Augenbrauen hoch und mutmaße, dass es sich bei diesem Typen wohl um irgendeine bekannte Persönlichkeit handeln muss. Warum sonst sollten wildfremde Menschen auf die Idee kommen, mit ihm Fotos zu machen? Mir ist das jedenfalls noch nie passiert. Vielleicht ist er ja Fußballer? Oder er ist durch ein zweifelhaftes TV-Format zu Ruhm gelangt? 

Kurz bevor ich das Grüppchen erreicht habe, höre ich, wie sich die Mädchen mit glühenden Wangen verabschieden: „Oh Mann. So krass. Danke, Paddy, echt. Das ist so lieb von dir."

"Alles Gute. Ciao", lautet seine knappe Antwort. 

Paddy robbt auf seinen Platz am Fenster. Er bläst die Wangen auf und scheint heilfroh zu sein, die Fotoaktion endlich hinter sich gebracht zu haben. Als sich unsere Blicke begegnen, beißt er sich kurz auf die Unterlippe, als hätte ich ihn bei etwas erwischt, das verwerflich wäre.

„Ich möchte aber nicht fotografiert werden", scherze ich, als ich mich neben ihm in den Sitz fallen lasse. Er neigt den Kopf und mustert mich aufmerksam.

„Echt nicht? Nicht mal zur Erinnerung an diesen wunderbaren Flug?"

„Ne, echt nicht."

Ich beuge mich nach unten und will gerade nach meiner Tasche greifen, als sich wieder jemand neben mit aufbaut. Noch mehr Fans mit Glitzernagellack und Glitzerhandyhüllen? Noch mehr Fotos?

Es ist glücklicherweise nur eine Stewardess, die uns mit einem strahlenden Lächeln zwei brühendheiße Kaffee reicht.

„Zoë ist echt ein schöner Name. So mellifluous", bemerkt er, als er zwei Zuckertüten in seinen Kaffee geleert und eine halbe Ewigkeit darin herumgerührt hat.

„Leben."

„Pardon?", er wirft mir einen verständnislosen Blick zu.

„Der Name bedeutet Leben."

„Schöne Bedeutung. Und soll ich dir mal etwas verraten? Ich bin Lebenskünstler."

Ich weiß, dass er einen Scherz machen wollte, aber irgendwie kann ich nicht darüber lachen.

„Sind wir das nicht alle?", frage ich ihn und schenke ihm ein flüchtiges Lächeln.



Wir schweigen und nippen an unseren Getränken, bis er sein Smartphone zückt, eine Weile darauf herumtippt und es mir schließlich unter die Nase hält. Es ist ganz offensichtlich eine christliche App - er hat eine Informationsseite über die Heilige Zoë aufgerufen.

„Sie wurde lebendig verbrannt", lese ich laut vor und werfe ihm einen zweifelnden Blick zu. „Ist das dein Ernst?"

„Nein", er seufzt genervt auf und zeigt auf das Datum ihres Gedenktages.

„Das ist ja heute", stelle ich erfreut fest und lache ihn an. „Das wusste ich nicht? Feiert man solche Tage? Ich habe keine Ahnung."

Patrick stopft sein Smartphone zurück in die Hosentasche und wendet sich mir mit finsterer Miene zu. Er ist echt hübsch, stelle ich fest, echt ausgesprochen hübsch.

„Zoë, ich sage das jetzt echt nur sehr ungern, ne?", seine Augen sind so blau und tief, dass mir schwindelig wird und ich kurz befürchte hineinzufallen. Ich lache über mich selbst und zucke mit den Achseln.

„Was denn?", ich fange an, meinen leeren Kaffeebecher zu zerpflücken.

„Well, listen", er räuspert sich. „Wenn du diesen Tag nicht richtig zelebrierst, Zoë, dann bist du verloren. You're gonna be doomed. Verstehst du?"

„Oh nein, ist das wahr?", ich reiße erschrocken die Augen auf. „Bitte nicht. Was kann ich jetzt denn tun? Wie zelebriert man so einen Tag?"

Er kratzt sich nachdenklich am Kinn und nickt, als würde er einer inneren Stimme lauschen, dann blickt er mich an. Seine Augen glitzern und glänzen.

„Du hast echt großes Glück, dass du mich getroffen hast. I'm an expert, you know?", verkündet er grinsend und beugt sich über die Armlehne zu mir hinüber. „Es gibt jetzt nur einen einzigen Weg für dich." 

Mitten ins Herz (Michael Patrick Kelly FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt