Teil 1

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Drückende Hitze springt mir entgegen, als ich völlig übermüdet den Flughafen von Tropical Island verlasse. Ein Blick auf meine silberne Armbanduhr verrät mir, dass es kurz nach Mittag ist, wobei sich sofort mein Magen bemerkbar macht, indem er ein lautes Grummeln von sich gibt. Angestrengt überlege ich, wann ich zuletzt eine Mahlzeit zu mir genommen habe, kann mich allerdings nur noch an den Salat, den ich etwa eine Stunde vor dem Abflug in einem Restaurant bestellt habe, erinnern. Darauf hoffend, dass Tante Amy bei sich zu Hause eine kleine Mahlzeit vorbereitet hat, wandere ich zu den Parkplätzen wo ich mit zusammengekniffenen Augen nach einem alten, gelben Cabrio Ausschau halte. Erschöpft schlängle ich mich eng an den geparkten Autos vorbei und weiche gelegentlich unvorsichtigen Fahrern aus, die ihren Wagen viel zu schnell über den schmalen Weg lenken. Nach einer gefühlten Ewigkeit sehe ich ein, dass es unmöglich ist, Tante Amy auf diesem riesigen Platz zwischen den vielen bunten Fahrzeugen zu finden. Seufzend bleibe ich inmitten des Menschengetümmels stehen. Ein letztes Mal fällt mein Blick über das Meer aus Autos, ehe ich beschließe, Tante Amy anzurufen. Dass ich zu dieser Erkenntnis nicht schon vor fünfunddreißig Minuten gekommen bin, lässt mich den Grad meiner Erschöpfung erahnen. Der zwölfstündige Flug von Portland auf diesen Inselstaat scheint mich mehr ermüdet zu haben, als ursprünglich erahnt und die Tatsache, dass ich gestern noch bis spät in die Nacht mit Phoebe telefonieren musste, unterstützt meinen Schlafmangel zusätzlich.

Als ich gerade mein Handy aus der Tasche ziehe und die Straße überqueren möchte, um zurück zum Ausgang zu laufen, hält ein Wagen mit quietschenden Reifen direkt vor meiner Nase. Erschrocken stolpere ich zwei Schritte zurück. Meinen Blick erhebend, sehe ich zwei freudig winkende Arme, die sich aus dem offenen Fenster eines gelben Cabrios recken.

„Hallo Rose! Ich freue mich riesig, dich nach so langer Zeit wiederzusehen. Komm, steig' ein!", ruft Tante Amy übermütig aus dem Wagen.

Krampfhaft lächelnd winke ich ihr zu, während ich zum hinteren Teil des Wagens renne, um meine zwei bis oben hin vollgestopften Koffer, sowie die schwere Reisetasche über die Tür zu heben und sie auf die Sitze fallen zu lassen. Kurz darauf gleite ich unsanft auf den Beifahrersitz, wobei hinter mir bereits einige ungeduldige Autofahrer wütend auf die Hupe drücken.

„Die scheinen es ja echt eilig zu haben.", bemerkt meine Tante kopfschüttelnd, wobei ihre langen, schwarzen Locken sanft durch die Luft fliegen.

„Hi Tante Amy. Schön, dich zu sehen.", sage ich nur knapp und hoffe inständig darauf, dass sie mir während der Autofahrt kein Ohr abquatscht. Sie dreht ihren Kopf in meine Richtung und schenkt mir ein perfektes Lächeln, das aus einer Werbung für Zahnpasta stammen könnte. Kurz darauf drückt sie das Gaspedal kräftig durch und rast mit einer Geschwindigkeit, bei der ich mir ziemlich sicher bin, dass sie die Begrenzung überschreitet, davon. Die fürchterliche Fahrweise scheint eine der wenigen Gemeinsamkeiten zwischen meiner Mutter und deren Schwester zu sein.

„Wie geht es dir denn so, Kleines?", fragt Tante Amy, die gerade auf eine stark befahrene Straße auffährt. Da die Ferien erst vor zwei Tagen begonnen haben, herrscht hier der für die Jahreszeit übliche Reiseverkehr. Tropical Island ist vor allem für seine kilometerlangen Sandstrände bekannt, die den Weg entlang des hellblauen Meeres bilden. In den Monaten von Juni bis September sind diese Strände jedoch überfüllt mit Touristen, die mit ihren Liegestühlen, Sonnenschirmen und Luftmatratzen den gesamten Platz einnehmen. Glücklicherweise liegt das Haus meiner Tante etwas weiter entfernt vom Zentrum, in dem sich die meisten Reisenden tummeln.

„Ganz gut. Die letzten Schulwochen waren sehr stressig, darum bin ich froh endlich ein paar entspannte Tage zu verbringen zu können. Und dir?"

Tante Amy überholt leise fluchend einen schrottplatzreifen Renault, in dem ein älterer Herr am Steuer sitzt, der aussieht als würde er jeden Moment über seinem Lenkrad einnicken. Etwas ungeschickt fädelt sie sich wieder in den Verkehr ein.

„Abgesehen von einigen Veränderungen, die mir manchmal noch Schwierigkeiten bereiten, kann ich mich nicht beklagen. Kurz nachdem Henry zurück nach London gezogen ist, musste ich mir eine neue Unterkunft suchen, da ich unser altes Haus alleine nicht erhalten konnte. Das war anfangs echt nicht leicht.", erklärt sie mit einem kleinen Seufzen.

Henry ist mein Onkel. Er und Amy waren für lange Zeit glücklich verheiratet, doch die Ehe zerbrach, als er eine neue Frau bei einem Heimatbesuch in London kennenlernte. Die Scheidung liegt erst ein Jahr zurück und ich erinnere mich, dass meine Mutter für ein paar Tage nach Tropical Island flog, um ihre Schwester ein wenig von dem Kummer abzulenken. Sie unternahm Ausflüge mit ihr, die eigentlich für Touristen und nicht für die Bewohner dieser Insel gedacht waren, fuhr mit ihr zum Shoppen in die Stadt oder brachte sie an den Strand, wo sie den Tag auf dem Liegestuhl mit einem Liebesroman in der Hand genossen.

„Das tut mir wirklich leid. Ist bestimmt keine leichte Zeit für dich.", bemerke ich mitfühlend, wobei ich meine Hand auf ihren Arm lege. Tante Amy ringt sich ein Lächeln ab, zuckt wegwerfend mit den Schultern, ehe sie sagt:

„Es ist eben so, wie es ist. Daran kann ich nichts ändern und ehrlich gesagt komme ich mit meinem neuen Leben recht gut klar."

Sie biegt nach links ab, weg von der stark befahrenen Straße in eine schmale Gasse. Wir rumpeln über einen holprigen Weg durch ein ärmliches Viertel, vorbei an heruntergekommenen Häusern, verschmutzten Gehsteigen und kaputten Fahrrädern. Schockiert beobachte ich einige kleine Kinder, die in zerfetzten Klamotten auf der Straße spielen. Obwohl ich Tante Amy schon öfter besucht habe und früher mit ihr und Onkel Henry abends oft Spaziergänge unternommen habe, kann ich mich nicht erinnern, je an diesem Viertel vorbeigekommen zu sein. Die Menschen, die hier leben, scheinen wirklich täglich ums Überleben kämpfen zu müssen. Der Anblick der traurigen Kindergesichter versetzt mir einen Stich im Herzen und ich muss schwer schlucken. Amy blickt mich kurz von der Seite an, ehe sie eine besorgte Miene aufsetzt.

„Ich versuche mir täglich in Erinnerung zu rufen, dass es genügend Leute gibt, denen es weitaus schlechter geht als mir. Das Leben, das ich jetzt habe kann ich definitiv nur wertschätzen. Sieh' dir nur die armen Kindern an. Ich wünschte, ich könnte ihnen irgendwie helfen.", sagt sie, nachdem sie den Blick wieder von mir abgewandt hat. Die Traurigkeit in ihrer Stimme ist nicht zu überhören und sofort muss ich daran denken, wie oft meine Mutter erwähnt, was für ein einfühlsamer Mensch ihre Schwester doch ist. Sie versetzt sich in die Lage anderer Personen so, als wäre es ihre eigene, weshalb sie wohl auch so eine gute Zuhörerin ist. Außerdem kenne ich niemand anderen, der so viel Verständnis für seine Mitmenschen aufbringt wie meine Tante.

„Ich hab' diesen Teil der Insel noch nie zuvor gesehen. Ehrlich gesagt hat Tropical Island auf mich bis jetzt immer den Eindruck gemacht, als wären alle Menschen, die hier leben wunschlos glücklich.", meine ich nach einigen Sekunden des Schweigens. Dass diese Vorstellung absoluter Schwachsinn ist, da es Armut in allen Teilen dieser Welt gibt, hätte mir natürlich schon vorher in den Sinn kommen können, aber als ich das letzte Mal hier war, war ich eben noch um einiges jünger und hab mir über solche Probleme noch keine Gedanken gemacht.

„Wie sagt man so schön: Der Schein trügt. Aber lass uns jetzt nicht weiter über dieses Thema reden, ich will ja nicht, dass du schon so kurz nach deiner Ankunft in mieser Stimmung bist.", erwidert Tante Amy.

Das bin ich ohnehin schon seit ich von dieser Reise erfahren habe, denke ich und meine Gedanken wandern zu Phoebe, die bestimmt gerade auf Schnäppchentour in einer Mall geht – ohne mich. Für wie unverantwortlich halten meine Eltern mich überhaupt? Als ob ich es nicht zwei Monate ohne ihre Beaufsichtigung in unserem Haus überleben würde. Ich hätte doch auch nur zwei oder drei Partys während ihrer Abwesenheit gemacht. Natürlich hätte ich diesmal alles gründlich aufgeräumt, die kaputten Gläser ersetzt und den Grill, der letztes Mal einen Stromausfall verursacht hat, nicht in Verwendung gebracht. Es kann doch mal passieren, dass solche Ausrutscher bei einer Hausparty geschehen – oder?

„Ja, das ist wohl besser so.", sage ich lächelnd und versuche dabei nicht allzu sarkastisch zu klingen.


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⏰ Letzte Aktualisierung: Aug 08, 2017 ⏰

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