Prolog

8 1 0
                                    

Wenn es draußen kalt wird und der Schnee lautlos vom Himmel rieselt, dann ziehen sich die Menschen in ihre Häuser zurück. Es ist eine Zeit in der sie wie Pinguine aneinander hocken und ihre kalten Glieder an die wärmenden Flammen halten. Sie genießen die Schönheit der verschneiten Landschaft und verfluchen die anstrengenden Märsche und die Kälte.
Viele Geschichten, Legenden und Märchen ranken sich um diese Zeit und werden Jahr für Jahr, Generation für Generation weitergegeben. Jeder erzählt sie anders. Es gibt einige die wahr sind und es gibt andere die nie geschehen sind. Und es gibt jene die vergessen wurden.

Sie öffnete die strahlenden blauen Augen und blickte an die Decke des Himmelsbetts. Dunkle Linien zeichneten sich unter dem Reif ab, der das ganze Zimmer bedeckte. Die Linien formten ein verwobenes Muster, ein Wappen dessen Herkunft und Geschichte schon lange vergessen war, begraben unter Schnee und Eis.
Es war wieder Zeit, Zeit um zu erwachen. So wie sie es jedes Jahr tat, jedes Mal am selben Ort. Es gelang ihr nur noch nebulöse Erinnerungen an das vergangene Jahr abzurufen. Was passiert war in den wenigen Stunden in denen sie wach gewesen war, blieb in den Schatten. Doch das war bedeutungslos.
Sie wusste nicht wie lange sie schon in dieser Welt verweilte, wie sie dort hingekommen war oder auch nur was für ein Geschöpf sie war. Doch auch diese Fragen waren bedeutungslos. Die Zeit spielte für sie keine Rolle, all diese Erinnerungen spielten keine Rolle. Nur eine vermisste sie schmerzlich. Die Erinnerung an ihren Namen.
Etwas ungeschickt schälte sie sich aus dem klammen Bett und streckte ihre steifen Glieder. Außer ihr befanden sich in dem kleinen Raum lediglich das Bett in welchem sie erwacht war und eine Kiste. Ausnahmslos alles war von Reif bedeckt. Er bedeckte die seidige Decke, das kunstvoll geschnittene Holz und die filigran verzierte Kiste.
Als sie sich, wie jedes Jahr, zu der Kiste auf der anderen Seite des Raumes begab, halten ihre Schritte leise und gedämpft wieder. Ihre zarten Finger umfassten das vereiste Metall und öffneten die Kiste, welche leise knarrte. Im Inneren lag, wie jedes Jahr, ein Kleid. Wer es dorthin gelegt hatte und wem es gehörte, war ihr unbekannt, doch Jahr für Jahr, wartete ein anderes Kleid an diesem Ort auf sie.
Sie begann damit sich anzukleiden, spürte wie der weiche Stoff sich ihrer Körperform anpasste, wie er über ihre Brüste strich und über ihre Hüften zu Boden glitt. Der Stoff raschelte leise und die funkelnden Diamanten und Saphire mit denen er besetzt war, klimperten bei jedem ihrer Schritte.
Obwohl sie nur einmal im Jahr diese Strecke lief, kannte sie den Weg aus dem kalten Schloss. Manchmal erschien es ihr so, dass sie in ihren Träumen die Flure entlang schritt und sich langsam den Weg ins Freie bahnte. Aber vielleicht waren es auch Erinnerungen an das vergangene Jahr.
Sie konnte sich nicht daran erinnern in ihrem Schloss schon einmal Besuch empfangen zu haben. Denn alles Leben fürchtete sie, da Eis und Schnee ihre ewigen Begleiter waren. Mit ihrem weißen Haar, das im Licht glitzerte wie der Schnee unter ihren Füßen, und ihren blauen Augen, die dem Winterhimmel so sehr glichen. Sie brachte Kälte und Schnee mit sich. Keiner hatte sie bisher aufhalten können, keiner hatte es auch nur gewagt die Hand gegen sie zu erheben.
Doch so stark und stolz sie auch war, so einsam fühlte sie sich auch. Und überall die unzähligen Jahre welche sie nun schon über diese Welt wandelte, wuchs ihr Wusch jemanden zu finden, der an ihrer Seite Leben konnte. Jemand der den Fluch der Einsamkeit vertrieb.
Es bereitete ihr keine Mühe über das weiße Flockenmeer zu laufen, denn wie von Zauberhand getragen versank sie nicht darin, sondern konnte mühelos auf der Masse schreiten. Alle Tiere waren vor der eisigen Kälte geflohen, alle Bäume ragten regungslos aus der Schneedecke und alles Gestrüpp war unter der Flockenflut begraben. Ihr Weg war frei.

Die Chroniken des Mondfalters - Wenn der Winter kommtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt