5. Stille

136 11 9
                                    

        Ich wusste nicht, wann ich wieder auf die Beine gekommen war, nachdem ich in Jonas Armen mein Bewusstsein verloren hatte. Ich wusste auch nicht, seit wann ich mein Handy in der Hand hielt oder wie ich es überhaupt in die Finger bekommen hatte. Oder wieso ich barfuß war. Oder warum ich plötzlich komplett alleine war und mir lediglich ein leichter Wind um die nackten Beine wehte.

        Ich öffnete meine Augen. Langsam. Vorsichtig.

        Ich stand im Türrahmen eines Zimmers. Es schien ein Hotelzimmer zu sein – oder jedenfalls das, was davon übrig geblieben war, denn vor mir bot sich ein Bild totaler Zerstörung. Mein Auge fiel zuerst auf das Bett, das im Zentrum des Zimmers stand. Die Bettdecke und das Kissen fehlten, was sich erklären ließ, wenn man die Millionen weißen Federn sah, die auf dem ganzen Boden verteilt lagen. Die Matratze litt unter vier riesigen Einschnitten und an einer Stelle ragte eine Sprungfeder aus ihr hervor. Daneben stand etwas, das wohl einmal eine Kommode gewesen war. Sie war zertrümmert und eine der Schubladen lag orientierungslos irgendwo zwischen dem Daunenchaos.

        Ich ging einen langsamen Schritt weiter in das Zimmer hinein und schwenkte meinen Blick nach links und rechts. Ich war wirklich allein. Und ich trug meine Schlafsachen, musste ich verwirrenderweise feststellen, als die Federn zum Teil wirklich schmerzhaft in meine Fußsohle stachen.

        Vor Schreck ließ ich das Handy fallen. „Verdammt!“, fluchte ich und zog mir eine Feder aus meinem Fußballen. Es fing schlagartig an, leicht zu bluten. Ich setzte mich auf die zerstörte Matratze und drückte meinen Daumen auf die winzige Wunde.

        Doch dann erregte etwas anderes meine Aufmerksamkeit. Etwas Dunkelgrünes. Es lag halb unter dem Bett. Mein Atem stockte, denn ich kannte diesen Fetzen nur zu gut. Ich hob ihn auf und musste erkennen, dass das Oberteil mit dem Billy Talent Aufdruck, am Rücken komplett einmal durchgerissen war. Insgesamt sah das T-Shirt aus, wie durch einen Fleischwolf gedreht.

        Jonas T-Shirt.

        Ich versuchte eins und eins zusammenzuzählen und mir irgendwie zu erklären, wieso ich in diesem Zimmer und überhaupt hier her gekommen war – und natürlich warum Jonas T-Shirt hier lag.

        Ausdruckslos starrte ich an die zerkratzte Wand vor mir. Das Oberteil wog immer schwerer in meinen Händen.

        Was, wenn das hier gar nicht echt ist?

        Wenn jemand meine Gedanken hätte hören können, wäre ich wahrscheinlich für verrückt erklärt worden. Glaubte ich jetzt, ich würde in der Matrix leben, oder was?

        Aber dieser Tagtraum, er hatte sich auch so echt angefühlt. Ich weiß noch genau wie sich das Waschbecken angefühlt hatte.

        Okay, zählen wir die Fakten zusammen: Ich hab keine Ahnung, wie ich hierher gekommen bin, ich trage plötzlich meine Schlafsachen und trotz der Verwüstung, die auf jeden Fall lautstark gewesen sein muss, lässt sich hier keiner vom Hotelpersonal blicken.

        Das stimmte. Ich lehnte mich nach hinten, um durch die offene Tür weiter in den Flur spähen zu können, doch dort war niemand zu finden. Ich lauschte. Nichts.

        Das einzige Geräusch machten die Metallringe der Gardinen, als sie durch den leichten Wind gegen die Gardinenstange stießen. Ich drehte mich zum Fenster um. Die grün-gelben Blümchen-Gardinen waren runtergerissen worden und hingen nur noch in kurzen Fetzen vor dem Fenster, dessen Scheibe zerschlagen war. In weiter Ferne konnte ich den Sylvan Hill Aussichtsturm erkennen, wie er auf dem Berg stolz aus dem Wald ragte und unter dem Nachthimmel von seiner Laterne auf der Spitze halb erleuchtet wurde.

Lunar - Augen, wie EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt